Die Illusion der Unbesiegbarkeit. Paul WilliamsЧитать онлайн книгу.
»primitiven« Kultur rechtfertigen mussten. »Wer erzählt mir was mit welchen Hintergedanken?«, lautet eine Frage, die sich auch im Unternehmensalltag regelmäßig zu stellen lohnt (vgl. Kapitel 7 »Urteilskraft«).
Eine »Logik des Niedergangs«?
»Nichts ist so beständig wie der Wandel«, stellte der griechische Philosoph Heraklit von Ephesus schon vor rund zweieinhalb Jahrtausenden fest. In der Bibel warnt Joseph den Pharao, dass auf »sieben fette Jahre« sieben magere folgen werden (1. Mose 41). Auf mittelalterlichen Darstellungen dreht Fortuna das Glücksrad, unerbittlich und ohne Ansehen der Person. Die Botschaft: Wer gerade noch oben auf ist, dessen Schicksal kann sich schon bald wenden. Fortuna befördert ihn unaufhaltsam nach unten, immerhin mit der Chance, irgendwann wieder obenauf zu sein. Auch Goethe glaubte offenbar nicht an stabiles Glück: »… alles muss in Nichts zerfallen, / wenn es im Sein beharren will«, dichtete er und empfahl »umzuschaffen das Geschaffne, / damit sich’s nicht zum Starren waffne«.7
Der Gedanke der Wankelmütigkeit des Erfolgs ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Für Unternehmen heißt das: Kometenhafte Aufstiege sind jederzeit möglich, aber auch rasante Abstürze. Dazu muss man nicht den modischen Hinweis auf »disruptive« Technologien bemühen; im Kern steckt diese Idee schon in Joseph Schumpeters bekannter (und mehr als 70 Jahre alter) These der »kreativen Zerstörung«. Danach wird der Kapitalismus durch Innovationen vorangetrieben – neue, bessere Verfahren und Technologien bedrohen fortlaufend die bestehenden, die Spielregeln der Produktion ändern sich. Auch der mechanische Webstuhl oder die Dampfmaschine waren so gesehen Auslöser einer »Disruption« und verschwanden nach einer weiteren Drehung des innovativen »Glücksrades«.
Wer bestehen will, muss sich daher rechtzeitig wandeln – nur was sich verändert, bleibt. Wir alle kennen Beispiele von Unternehmen, die den Zug der Zeit verpassten, unverdrossen Schreibmaschinen produzierten, während der Personal Computer Einzug hielt, auf mechanische Uhrwerke setzten, obwohl billigere Digitaluhren den Markt überschwemmten, usw. Neben solchen externen Faktoren können aber auch hausgemachte Fehler ein Unternehmen Talfahrt aufnehmen lassen, siehe DaimlerChrysler, Schlecker oder Volkswagen. Gilbert Probst und Sebastian Raisch von der Universität Genf haben in diesem Zusammenhang schon 2004 die Frage aufgeworfen, ob es so etwas wie eine »Logik des Niedergangs« gibt. Dazu analysierten sie die 100 größten Unternehmenskrisen der vorausgegangenen fünf Jahre in den USA und Europa, d. h. die fünfzig größten Insolvenzen sowie 50 Fälle, in denen Unternehmen binnen dieses Zeitraums mindestens 40 Prozent ihres Börsenwertes eingebüßt hatten. Probst und Raisch identifizierten vier Merkmale eines dauerhaften Unternehmenserfolgs:
70 Prozent der scheiternden Unternehmen besaßen all das – jedoch im Übermaß. Zu schnelles Wachstum, hektische Veränderungsprozesse, übermächtige (starrsinnige) CEOs und eine »überzogene Erfolgskultur« führten diese Organisationen auf Dauer an den Abgrund. Eine extreme Erfolgskultur etwa, mit hohen Gehältern und Boni, schürt Konkurrenzdenken und Söldnermentalität. Geht es dem Unternehmen schlechter, verlassen davon angezogene Mitarbeiter eilig das sinkende Schiff und beschleunigen seinen Untergang. Extremes Wachstum ist häufig Folge zahlreicher Unternehmensaufkäufe in (zu) kurzer Zeit. Dies erschwert nicht nur die Integration, sondern bürdet den Käufern häufig hohe Schulden auf, die in umsatzschwächeren Zeiten zum Problem werden. Beispiele sind der US-Mischkonzern Tyco oder ABB. Unkontrollierter Wandel führt zur Orientierungslosigkeit auf allen Ebenen. Nach 60 Übernahmen und zahlreichen Restrukturierungen und Richtungswechseln wusste bei ABB zeitweise niemand mehr, wofür das Unternehmen eigentlich steht. Der letzte Sargnagel ist dann eine Führungsspitze, die den Ernst der Lage verkennt, weil der bisherige Erfolg sie selbstherrlich und blind für Gefahren gemacht hat. Das Unternehmen brennt aus, schlittert in die Insolvenz (wie etwa Enron nach einem Wachstum von 2000 Prozent in nur vier Jahren, von 1997 bis 2001) oder wird durch riesige Schuldenberge belastet (wie zeitweise British Telecom, Deutsche Telekom und France Télécom). Probst / Raisch sprechen vom »Burn-out-Syndrom«. Aktuellere Beispiele für dieses Syndrom wären die Porsche AG, die in den VW-Konzern eingegliedert wurde, nachdem sie sich selbst an einem Übernahmeversuch verhoben hatte, die wechselhafte Geschichte von Infineon, die Talfahrt von Valeant, die wir in Kapitel 6 analysieren, oder auch die Drogeriekette Schlecker, die u.a. an einer explodierenden Zahl von Filialen und einem beratungsresistenten Firmenpatriarchen scheiterte.
Der Absturz bis dato erfolgreicher Unternehmen ist also keine schicksalhafte Fügung, kein Produkt »äußerer Umstände« oder »disruptiver« Technologien, sondern oft Folge einer Kette interner Fehler, die in Summe – so Probst / Raisch – eine »Logik des Niedergangs« begründen. So weit, so schlecht. Und leider ist es nicht so, dass ein Unternehmen nur vom Gaspedal gehen muss, um auf sicherem Terrain zu bleiben. Die restlichen 30 Prozent der Unternehmen scheiterten an ihrer Trägheit und an zu schwacher und wenig entscheidungsfreudiger Führung. Frühvergreisung (»Premature Aging«) nennen es die Forscher, wenn Unternehmensumsätze stagnieren, Innovationen versäumt werden, Vorstandschefs Reformen blockieren und eine besonders fürsorgliche Unternehmenskultur notwendige personelle Einschnitte verhindert. Ihre Beispiele: United Airlines, Kodak, Xerox, Motorola. Idealerweise achtet ein Unternehmen also auf die richtige Balance: Es setzt auf gesundes Wachstum und auf einen stabilen Wandel, der den Mitarbeitern Veränderungen abverlangt, ohne sie zu überfordern. Es verhindert (außer in akuten Krisen) autokratische Führer und setzt auf Austausch und gegenseitige Kontrolle auch auf der Top-Ebene. Und es pflegt eine »wehrhafte Vertrauenskultur«, in der Leistung belohnt und Nichtleistung sanktioniert wird, ohne die Organisation in ein Haifischbecken zu verwandeln.9 Vom Topmanagement verlangt all das ein besonnenes und zugleich entschlossenes Handeln.
Doch so plausibel all diese Faktoren in der Rückschau wirken, so anspruchsvoll ist ihre Umsetzung im Unternehmensalltag. Wer vermag schon immer verlässlich zu sagen, ob man sich noch in der Phase gesunder Expansion befindet oder schon auf dem Weg zur Überhitzung? Oder ob die Unternehmenskultur noch ein akzeptables Maß an Wettbewerbsorientierung aufweist oder schon Söldnermentalität provoziert?
Hinzu kommt ein grundsätzliches Dilemma, auf das auch der Management-Vordenker Jim Collins in einem Aufsatz über den Absturz erfolgsverwöhnter Unternehmen hinweist (»How the Mighty Fall«10): Umsteuern muss ein Unternehmen (bzw. sein Management) schon, bevor die Missstände für alle offen zutage treten, also in einer Phase, in der scheinbar noch alles gut läuft. Dem steht aber die menschliche Psyche entgegen, wie Probst / Raisch einräumen, die sich schwer damit tut, eine Strategie »bereits zu einem Zeitpunkt [zu] ändern, zu dem diese (zumindest vordergründig) noch erfolgreich ist«.11 Von den Incas hätte dies beispielsweise erfordert, ihre rastlose Expansionsstrategie schon zu verlangsamen, bevor ihr Reich durch zunehmende Widerstände schwerer regierbar wurde. Oder von großen Versendern wie Quelle oder Neckermann, sich schon um das Online-Geschäft zu kümmern, als das Bestellen per Katalog ihnen noch satte Umsätze und Gewinne bescherte.
Collins’ Analyse der Faktoren, die mächtige Unternehmen zu Fall bringen, überschneidet sich übrigens stark mit der seiner Genfer Kollegen. Der US-Berater nennt auf der Basis der Auswertung von zusammen 6000 Jahren Unternehmensgeschichte die »Hybris« erfolgsverwöhnter Manager, die Gier nach mehr Macht, Umsatz und Größe und das Verleugnen von Risiken und Gefahren als Komponenten des Niedergangs. Lässt sich die Misere nicht mehr ausblenden, folgen hektische Rettungsversuche und schließlich Resignation. Doch auch Collins blickt aus sicherer Entfernung