Der kleine Eheretter. Monika RöderЧитать онлайн книгу.
einsam und von der Welt abgeschnitten. Dennoch räumt er den Staubsauger weg, trottet pflichtbewusst in die Küche, stellt sich teilnahmslos an den Schrank und wartet auf weitere Anweisungen.
Auch bei Sabine funktioniert die Neurozeption unterhalb der Bewusstseinsschwelle so schnell, dass eine logische Reflexion der Situation nicht möglich ist. Sie liest den abgeschalteten Ausdruck in seinem Gesicht und seiner Haltung, und auch bei ihr werden noch mehr alte wunde Knöpfe gedrückt: »Ich bin in Not und werde nicht gesehen. Ich werde wieder alleingelassen, meine Gefühle und Bedürfnisse haben keine Berechtigung.« Doch Sabines Nervensystem hat im Gegensatz zu Franz eine Präferenz für die Aktivierung des Kampfprogramms. Ihre verzweifelte Reaktion ist nicht resigniert, sondern wird immer konfrontativer, bissiger und verletzender. Ihre vorwurfsvollen Worte rauschen durch Franz’ Ohren hindurch. Der Kontakt ist verloren.
Streit und die Eskalationsspirale
Jetzt noch einmal zur Frage: Was ist Streit? Streit ist im neurobiologischen Sinne eine Dynamik, in der beide Partner getriggert sind – in der also bei beiden Nervensystemen der Defensivmodus aktiviert ist und sie in ein Kräftemessen einsteigen. Das autonome Nervensystem heißt so, weil es autonom und unabhängig von rationalen Erwägungen entweder in den Kampf-/Fluchtmodus oder in den Shutdown schaltet.
Ist der Startknopf einmal gedrückt, beginnt eine innere Kettenreaktion und damit eine sich wechselseitig aufschaukelnde Dynamik: die Eskalationsspirale. Die ersten Anzeichen können so subtil und versteckt sein, dass ein fremder außenstehender Mensch sie nicht lesen könnte, aber die innere Eskalation beginnt: eine Augenbrauenbewegung, ein Augenverdrehen, ein leichtes Schnauben oder Seufzen, ein minimal veränderter Tonfall oder eine bestimmte Körperhaltung. Aber der Empfänger konstruiert daraus die Botschaft! Das heißt: Wer die Botschaft hört oder sieht, entscheidet über ihre Bedeutung. Gibt es beim Empfänger wie oben dargestellt einen wunden Punkt, eine Bedürftigkeit oder eine Verletzung, so kann das beim anderen ebenfalls noch unterhalb der Bewusstseinsschwelle eine Abwehrreaktion auslösen – auch dort beginnt eine innere Eskalation. Die wird ebenfalls vom Partner bzw. von der Partnerin gelesen, die wiederum darauf reagiert. Jetzt nimmt die Eskalationsspirale wie im Beispiel von Franz und Sabine Fahrt auf.
Meist gibt es bereits ein umfangreiches gegenseitiges Triggergeschehen, bevor dem einen oder anderen Beteiligten bewusst wird, was hier läuft. Tritt der Angriff des anderen ins Bewusstsein, wird die Situation meist nicht besser: Jetzt wird erst recht noch mal was draufgepackt und zurückgeschossen. Die Eskalationsspirale wird größer und ist bei manchen Paaren geprägt von Verächtlichkeit, Beleidigungen oder auch Gewalt.
Alles Wissenswerte in Kürze
Unser Gehirn hat ein eingebautes System zur Gefahrenerkennung, das ständig die Umgebung nach potenziellen Bedrohungen abscannt. Dabei ist es übervorsichtig und meldet lieber falsch positiven Alarm, bevor es eine Gefahr übersieht. Wird etwas erkannt, das im Gedächtnis als schmerzvoll oder gefährlich abgespeichert ist, schaltet es blitzschnell auf ein Angriffsoder Verteidigungssystem um.
Dabei können auch »kleine« Gefahren wie z. B. das genervte Verhalten eines Partners, das früher bei den Eltern oder in anderen belastenden Lebenssituationen als bedrohlich erlebt wurde, dazu führen, dass ein Kampf eingeleitet wird.
Die ersten Anzeichen sind oft so subtil, dass der gefühlte Angriff und die eingeleitete Gegenwehr nicht bewusst werden, aber die innere Eskalation beginnt. Das Gegenüber jedoch nimmt es neurozeptiv wahr, fühlt sich wiederum angegriffen und reagiert mit einem Gegenangriff oder einer Blockade. So können scheinbar banale Situationen (wie der klassische Konflikt um die Zahnpastatube) eskalieren.
Blick nach innen
Übung: Selbstwahrnehmung im Konflikt
Sie haben in der vorigen Übung einige Ihrer persönlichen Triggersituationen identifiziert. Auch die nächste Übung zielt darauf ab, die Neurozeption und andere innere, autonome Prozesse bewusster werden zu lassen und noch früher zu erkennen, wann ein inneres Eskalationsgeschehen beginnt. Wir brauchen diese Selbstwahrnehmung, weil Signale, die wir als Bedrohung empfinden, unsere präfrontalen Hirnfunktionen runterfahren, diese aber zur Konfliktlösung essenziell sind. Auf dem Weg heraus aus der Partnerschaftskrise geht es immer wieder darum, das eigene innere Geschehen bewusst zu machen, um später gezielt regulierend eingreifen zu können und damit endlich zu wirklicher Bedürfnisbefriedigung zu finden.
In dieser Übung können Sie also weitere Aspekte des Konfliktgeschehens bewusst werden lassen. Stressen Sie sich nicht, wenn Sie zunächst nur wenige Wahrnehmungen finden. Am besten betrachten Sie diese Übung als »Kickoff«, als erste Gehversuche, um sich selbst und Ihren Partner zukünftig in Konfliktsituationen besser zu beobachten und dadurch bewusster handeln zu können. Hier sind einige Beobachtungskriterien dafür:
•Wie verändert sich die Sprache meines Partners im Konflikt und wie verändert sich meine eigene Art zu sprechen?
•Werden die Worte schneller, lauter oder langsamer, leiser?
•Wie viel (Nach-)Druck liegt in meiner Sprache versus wie energielos klingt sie?
•Verändert sich die Tonhöhe? Wird sie eher höher oder tiefer?
Partner/Partnerin:
Ich selbst:
•Wie verändert sich die Sprache inhaltlich? Wird sie schärfer, bedrohlicher? Wird sie hoffnungsloser, resignierter?
•Kommt es vermehrt zur Formulierung von Superlativen (z. B. etwas ist »extrem«, »schrecklich«, »unfassbar« …)? Oder zu Verallgemeinerungen (»nie«, »dauernd«, »alles« …)?
Partner/Partnerin:
Ich selbst:
Lenken Sie Ihre Wahrnehmung nun auf Ihren Körper. Welches sind Ihre persönlichen Reaktionen auf gefühlte Angriffe, auf Druck und Vorwürfe etc.? Scannen Sie Ihren Körper dabei nach Zeichen von Anspannung, Druckgefühlen, Unwohlsein, Zittern, Schweiß, Schmerz, Übelkeit, Schwächegefühlen etc. Wo und wie spüren Sie den ausgelösten Alarm in Ihrem Körper? Zeichnen Sie Ihre Körperwahrnehmungen in die Skizze ein.
Was im Inneren des Körpers Ihres Partners oder Ihrer Partnerin abgeht, wissen Sie nicht. Aber wir können meist umso besser die äußerlich erkennbaren Signale ablesen. Nehmen Sie darum die andere Skizze, um die Körperzeichen des anderen einzuzeichnen.
Nutzen dieser Übung:
Viele Menschen fühlen sich besonders in Streitsituationen und Eskalationen ohnmächtig dem Geschehen ausgeliefert. Es fühlt sich an wie »Es geschieht mit mir … etwas geht mit mir durch … mir sind die Sicherungen durchgebrannt …«. Durch die Selbstreflexion und Schärfung der Wahrnehmung eigener Prozesse und Handlungen gewinnen wir an Handlungsfähigkeit und damit am Vermögen, das Konfliktgeschehen zu steuern.
Warum Streit nichts bringt
Wir haben oben gesehen, wie das Gehirn funktioniert, um zu überleben und sich vor Gefahren zu schützen. Es gibt einen Mechanismus, der es dem Menschen ermöglicht, sich in Gefahrensituationen auf das Wesentliche, nämlich den Angriff oder die Flucht, zu konzentrieren: Die Hirnfunktionen, die fürs Überleben gerade nicht nötig sind, werden ausgeschaltet. Was sich evolutionsbiologisch bottom-up aufgebaut hat, wird nun