Traumatische Verluste. Roland KachlerЧитать онлайн книгу.
nahen Menschen oder erfahren von diesem, ist die Todesnähe und die nun erfahrbare Übermacht des Todes eine der massivsten Bedrohungen. Das Erschrecken und der Schreck sind die erste evolutionsbiologisch angelegte Alarmreaktion der Amygdala, die sofort und ohne Umweg über den Cortex anspringt. Sofort wird das Gehirn mit Adrenalin und Noradrenalin überflutet und das sympathische Nervensystem massiv aktiviert. Im gleichen Augenblick spüren die Betroffenen aber auch, dass nun ein Kämpfen oder Fliehen aussichtslos ist. Über den Schreck, den Schock und die Panik werden nun wie bei anderen Säugetieren der Totstellreflex und der Parasympathikus aktiviert und die Aktivierung des Sympathikus abrupt abgebrochen, was zunächst ganz früh mit Übelkeits-, Schwäche-, Schwindel- und Ohnmachtsgefühlen einhergeht. Der Totstellreflex, die Aktivierung des Parasympathikus und die Ausschüttung von Endorphinen produzieren nun das traumatische Erleben. Der Schreck und Schock werden über das Freezing fixiert, der Organismus, insbesondere der Muskelapparat, wird paralysiert, und der für das Denken zuständige präfrontale Cortex und das Sprachzentrum werden blockiert. Es werden ein Tunnelblick und Betäubung, aber auch Verwirrung, Desorientierung und Sprachlosigkeit erlebt. Dazu kommt es nun zu verschiedenen dissoziativen und peritraumatischen Erfahrungen, in denen alles unwirklich erscheint (mehr in Kapitel 2). Auch der Hippocampus, der normale Erfahrungen in das biografische Gedächtnis integriert, wird in der Traumatisierung blockiert, sodass das Verlusttrauma unverbunden als emotionale Überwältigung unverarbeitet stehen bleibt, dann dissoziiert und oft auch fragmentiert wird.
Merke!
Ein Verlusttrauma wird in intensivsten Emotionen wie Erschrecken, Entsetzen, Verzweiflung, Ohnmacht und massivstem Verlustschmerz erlebt, die im Schock rasch weitgehend dissoziiert werden, sodass emotionale Taubheit einsetzt.
Diese emotionalen und psychophysiologischen Reaktionen in einem Verlusttrauma sind »normal«, das heißt, dass praktisch alle Menschen in ihrem Organismus auf ein Verlusttrauma damit reagieren.
Da der Organismus der Betroffenen die massiven Erfahrungen im Verlusttrauma nicht lange aushalten kann und auch nicht gänzlich zusammenbrechen und dekompensieren will, setzt in aller Regel sehr rasch die Schutzreaktion der Dissoziation ein. Die intensiven Emotionen werden deshalb sehr rasch gedämpft, betäubt und abgespalten. Dazu im nächsten Kapitel mehr.
1.5Interventionen: Das Erstgespräch und die Verlustdiagnostik
Menschen kommen nach einem traumatisierenden Verlust zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit unterschiedlichen Verlusttrauma-Reaktionen und diversen Symptomen, mit denen wir unterschiedlich umgehen müssen und die wir wie folgt kategorisieren können.
Die Hinterbliebenen kommen also
•unmittelbar nach dem Verlusttrauma: Inzwischen kommen Hinterbliebene meist sehr frühzeitig, oft wenige Wochen oder sogar unmittelbar nach dem traumatischen Verlust, an eine Beratungsinstitution oder zu niedergelassenen Psychotherapeuten, weil Kriseninterventionsdienst und Notfallseelsorge dringend eine professionelle Hilfe anraten oder auch vermitteln. Sie kommen in ihrem eigenen Verständnis als Trauernde meist zur Trauerbegleitung oder Trauerberatung. Aber fachlich verstanden sind sie traumatisierte und trauernde Hinterbliebene. Sie stehen in dieser frühen Phase noch ganz unter dem oben beschriebenen Eindruck der unmittelbaren Traumatisierung und des schweren Verlustes und bringen deshalb neben dem Verlustschmerz auch die unmittelbaren psychophysiologischen Reaktionen einer Traumatisierung (vgl. Kapitel 2) mit.
•etwa sechs Monate nach dem Verlusttrauma: Häufig kommen die Hinterbliebenen etwa ein halbes Jahr nach dem traumatisierenden Verlust, weil nun die konkreten Pflichten, die mit dem Tod des nahen Menschen verbunden waren, weitgehend abgeschlossen sind. Nun wird meist der Verlustschmerz intensiver. Viele Hinterbliebene leiden aber auch daran, dass das Erleben der Dissoziation wie emotionale Taubheit nicht nachlässt. Dazu kommt, dass sich Angehörige und Freunde mit zunehmender Dauer überfordert fühlen und die Hinterbliebenen zur Inanspruchnahme von professioneller Hilfe drängen oder sich auch zurückziehen. Die Hinterbliebenen befinden sich nach den ersten sechs Monaten noch immer in der unmittelbaren Traumareaktion, insbesondere im dissoziativen Erleben, zugleich werden der Verlustschmerz und offene Fragen beispielsweise nach der ungeklärten Schuld oder Mitschuld stärker.
•kurz vor oder nach dem ersten Todestag: Der erste Todestag ist aus vielen Gründen ein belastender, schmerzlicher Einschnitt im Verarbeitungsprozess nach einem traumatischen Verlust, bei dem die Hinterbliebenen oft spüren, dass sie mit den ersten Folgen des traumatisierenden Verlustes (vgl. Kapitel 2 und 3) nicht selbst zurechtkommen. Insbesondere die Erfahrung der bleibenden Dissoziation, der Erstarrung und der Flashbacks sowie die intensiven, oft noch zunehmenden Verlustschmerz-Attacken sind für die Hinterbliebenen sehr verstörend. Auch die Erfahrung, dass nach (!) dem ersten Todestag, also erst im zweiten Trauerjahr, entgegen der eigenen Erwartungen der Verlustschmerz intensiver (!) wird, bewegt Hinterbliebene, professionelle Hilfe aufzusuchen.
•nach etwa 18 bis 24 Monaten mit einer Komplizierten Trauma-Trauer-Folge-Störung: Wenn es nach etwa 18 Monaten keine erste Linderung der Verlusttrauma-Folgen, sondern wie häufig vorkommend, eher eine Intensivierung gibt, dann liegt in aller Regel eine Komplizierte Trauma-Trauer-Folge-Störung (im Weiteren abgekürzt als KTTS, vgl. Kapitel 4) vor, bei der sich die Traumareaktionen und die Verlustreaktionen gegenseitig verstärken, sodass sich nun fixierte Traumafolgen einstellen. Die Hinterbliebenen leiden dann z. B. daran, dass die Attacken des Verlustschmerzes intensiver werden und diese die Traumareaktion triggern, sodass sie keinen Zugang zu ihrem verstorbenen nahen Menschen finden oder keinen Lebenssinn mehr sehen. Die KTTS kann oft noch im Rahmen einer Beratungsinstitution als Verlusttrauma-Beratung behandelt werden, meist aber braucht es die Behandlung im Rahmen einer Psychotherapie.
•nach etwa 24 Monaten mit chronifizierten psychischen Folgesymptomen wie einer Depression oder psychosomatischen Symptomatik: Hier ist nun die KTTS in eine psychische Folgesymptomatik, oft mit deutlichem Krankheitswert umgeschlagen oder hat sich entsprechend dorthin entwickelt. Nun steht bei den Patienten zunächst die konkrete Symptomatik wie eine Depression (ICD F32) oder eine psychosomatische Erkrankung wie etwa eine anhaltende Schmerzstörung (ICD F45.4) oder massive Herzbeschwerden im Sinne einer Herzneurose (ICD F45.30) im Mittelpunkt des Erlebens und veranlasst die Hinterbliebenen, professionelle Hilfe aufzusuchen, wobei meist der Zusammenhang zum Verlusttrauma gesehen oder geahnt wird.
Für die ersten drei beschriebenen Situationen, oft auch bei einer leichteren KTTS, eignet sich eine
• Verlusttrauma-Beratung: Sie setzt in aller Regel unmittelbar nach dem Verlust, oft auch nach sechs Monaten oder in der Zeit um den ersten Todestag ein. Das unmittelbare Ziel der Verlusttrauma-Beratung liegt darin, die Hinterbliebenen bei einer heilsamen Transformation des Verlusttraumas zu unterstützen und damit die Entwicklung in Richtung einer KTTS zu verhindern. Anders gesagt geht es hier darum, die Traumatisierung zu lösen, den Realisierungs- und Beziehungsprozess in Fluss zu bringen und über verschiedene Schwierigkeiten hinweg im Fluss zu halten, sodass ein wieder glückendes Leben mit der Integration des Verlusttraumas und der inneren Beziehung zum Verstorbenen möglich wird (Kachler 2019).
Dieser Beratungsprozess kann an einer Beratungsinstitution oder im Rahmen einer Psychotherapie stattfinden. Beratungsinstitutionen müssen allerdings klären, ob sie für eine Verlusttrauma-Beratung die genügende Anzahl von etwa 30 bis 40 Sitzungen und einen Zeitraum von meist anderthalb bis zwei Jahren zur Verfügung stellen können.
Viele von einem Verlusttrauma Betroffene suchen zunächst auch eine Trauerbegleitung bei Ehrenamtlichen oder eine Trauergruppe auf. Das kann für Betroffene eine wichtige erste Anlaufstelle sein. In aller Regel ist dann aber eine Weiterverweisung an eine professionelle Beratungsinstitution oder Psychotherapie notwendig.
Hat