Feierabend hab ich, wenn ich tot bin. Markus VäthЧитать онлайн книгу.
öffnete den Kühlschrank, ließ kurz ihren Blick schweifen, nahm sich eine Limo und schaltete den Rechner an. Sie arbeitete bei einem Versicherungskonzern und seit sie vor zwei Jahren befördert worden war, legte sie immer noch eine kleine Abendeinheit ein. Nichts Großartiges, ein paar Mails, Dokumente etc.
Sie hatte leichte Kopfschmerzen, achtete aber nicht darauf. Sie war hart im Nehmen und das machte sie stolz. Nicht ohne Grund hatte sie sich beruflich so weit hochgearbeitet. »Nur die Harten kommen in den Garten«, hatte ihr Vorstand einmal – nicht mehr ganz nüchtern – zu ihr gesagt. »Worauf du deinen Porsche verwetten kannst«, dachte sie lächelnd. »Stress ist mein zweiter Vorname.« Sie wollte noch kurz Martin anrufen, erinnerte sich aber seltsamerweise nicht mehr an seine Nummer. Egal. Würde ihr schon wieder einfallen.
Sabine Meister setzte sich an ihren Rechner, warf die Post auf den Schreibtisch und öffnete ihren E-Mail-Eingangsordner. Nach ein paar Sekunden füllte sich der Bildschirm mit neuen Nachrichten. Zuerst hatte sie das Gefühl, irgendetwas stimme nicht. Und dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schock: Sie erkannte die Namen der E-Mail-Absender, wusste aber nicht mehr, wer sie waren. Christian Ruthe, verflixt, Christian Ruthe. Wo hatte sie den noch mal getroffen? Ruthe war einer ihrer engsten Mitarbeiter, doch das wusste sie in diesem Moment nicht. Genauso wenig wie sie den Namen ihres Chefs erkannte oder den ihrer besten Freundin, die sie fragte, ob sie sie am Wochenende besuchen könne.
Eine Woge der Panik ergriff sie. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Zitternd stand sie auf und ging im Zimmer umher, um sich zu beruhigen. Zuerst dachte sie an einen Schlaganfall, aber sie war völlig klar. Sie zählte bis 20 – auch das klappte. Nur ihr Gedächtnis schien mit einem Mal ausgesetzt zu haben. Völlig verwirrt schaltete Sabine Meister ihren Rechner aus, legte den Kopf in die Hände und versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Morgen würde sie als Erstes ihren Hausarzt anrufen.
Im Jahr 1992 fiel ein Sänger namens Jon Bon Jovi in New York vor seinem Publikum auf die Knie und schmetterte ins Mikrofon: »I sleep when I’m dead!« – »Ich schlafe, wenn ich tot bin!« Die Menge raste. In den abschließenden Trommelwirbel rief er seinen Fans zu: »You can quote me on that one!« – »Da könnt ihr mich ruhig zitieren!« Gern geschehen.1
Anders als Prominente in der Öffentlichkeit – von denen manche (wie Keith Richards von den Rolling Stones) tatsächlich aussehen, als würden sie erst schlafen, wenn sie tot sind – plagen uns »normale« Menschen meist profanere Dinge. Wir schlafen nicht erst, wenn wir tot sind – aber viele von uns haben erst Feierabend, wenn sie tot sind. Das ist jedenfalls die Bekenntnislage bei vielen Arbeitnehmern, die im Laufe der Zeit einen immer größeren Druck verspüren, mehr zu leisten, pausenlos präsent zu sein und Höchstleistungen abzuliefern.
Wir sehnen uns nach Einfachheit.
Wir schleppen uns mit einem ständigen Gefühl der Ermüdung und des Nicht-Hinterherkommens durch den Alltag, sind Getriebene unserer Uhren und Terminkalender. Wir fühlen, dass etwas nicht mehr stimmt, dass die Dinge in unserer Arbeitsgestaltung aus dem Ruder gelaufen sind. Etwas ist gesellschaftlich aus der Balance und ins Rutschen geraten, das wir aber nicht benennen können. Dafür haben wir einen untrüglichen Instinkt entwickelt, eine Art Schwarmintelligenz. Leider geht dieser Schuss, diese kollektive Denkanstrengung, meist nach hinten los. Statt uns zu fragen, wie wir unsere Arbeitswelt als Ganzes neu strukturieren können, packen wir den Wellness-Werkzeugkoffer aus, nehmen Moorbäder, Yogastunden und Seminare zur Zeitgestaltung. Wir sehnen uns nach Einfachheit und der schlichten Eleganz eines überschaubaren Tagwerks.
Die Realität sieht anders aus. Der Chef macht Druck, von Politik und Medien werden wir praktisch jeden Tag in Angst gehalten, unseren Job zu verlieren, wir stolpern dahin in unserem Jonglierspiel, um die bunten Bälle der Anforderungen aus komplexer Arbeit, Beziehung, Kindern und ein bisschen sozialem Leben in der Luft zu halten.
Ein mir bekannter Trainer, seines Zeichens Schweizer Staatsbürger, mokierte sich einmal über eine Neujahrsrede von Angela Merkel. »Schauen Sie sich das mal an«, meinte er, halb fasziniert, halb angewidert. »Diese Frau spielt mit den Ängsten der Bürger. Es werde ›ein schweres Jahr‹ und ›man müsse den Gürtel enger schnallen‹. Kein Optimismus, nirgends. Nur ein Häufchen Ängstlichkeit. Also entweder sie ist wirklich so verzagt – dann tun mir die Deutschen leid – oder sie ist verdammt gerissen, die Leute so in Angst zu halten. Denn gucken Sie sich mal Obama an: Yes – we – can. Das ist der wahre Geist. Anpacken. Den Leuten Mut machen. Merkel dagegen – da seid ihr Deutschen wahrlich nicht zu beneiden.«
Es wird Zeit, sich zu besinnen.
Es wird Zeit, sich zu besinnen. Zeit, auf unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und uns selbst zu blicken, auf unsere Werte und Denkmuster. Damit wir keine buddhistischen Klöster mehr besuchen müssen, um Frieden zu finden, sondern an unseren Arbeitsstätten zu mehr Ausgeglichenheit kommen. Es geht um eine nicht nur an Zahlen orientierte Arbeitswelt. Es geht um Menschlichkeit, vernünftige Produktivität, Grenzziehungen und eine Sinnstiftung, die den Menschen und das Unternehmen befruchtet – damit beide nicht im Burnout verbrennen.
Missverständnis Arbeitsgesellschaft
Es gibt eine hübsche, sehr bekannte Werbung für einen Tampon. »Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse«, flötet die gutaussehende Schauspielerin und lässt den Rollladen hinter der Präsentationswand herunter. Ein durch mannigfaltigen Kabarettgebrauch mittlerweile ebenso viel zitierter wie legendärer Satz.
In gewisser Weise geht es, provokativ formuliert, der westlichen Arbeitsgesellschaft wie der Menstruation: Sie ist eine Tatsache, einen Großteil der Bevölkerung betrifft sie – und ihre Geschichte ist eine voller Missverständnisse. Diese Missverständnisse haben zu einer neuen, modernen Sichtweise von Arbeit geführt, die sich, kurz gefasst, auf die Gleichung bringen lässt: Arbeit = Sinn.
Früher arbeitete man, weil man musste. Nicht, um sich zu verwirklichen.
Dass die individuelle Arbeit ein sinnstiftendes und damit die Existenz des Einzelnen entscheidend prägendes Moment sein sollte, ist ein relativ junges Phänomen der letzten 100 Jahre. Früher arbeitete man, weil man musste. Nicht, um sich zu verwirklichen. Im griechischen Altertum galt Arbeit als Strafe der Götter. Die Griechen strebten nach einem Ideal aus Grundbesitz, Wohlstand und Tugenden. Arbeit wurde nur im sportlichen und militärischen Bereich geleistet und war im Übrigen Sache der Sklaven. Die Griechen nahmen mit ihrer Teilung der arbeitenden Sklavenbevölkerung von der der Muße frönenden Bürgerschicht die Entwicklung der europäischen Ständegesellschaft vorweg. Auch in der Sprache drückt sich der historische Zwangscharakter von Arbeit aus: Die Franzosen verwenden für »Arbeit« das Wort »travail«, das sich vom lateinischen »tripalus« ableitet – dem »Dreipfahl«, einer Vorrichtung, mit der man widerspenstige Pferde bändigte.2
Noch im 17. Jahrhundert dozierte der englische Philosoph John Locke: Arbeit nur um der Arbeit willen ist gegen die menschliche Natur. Arbeit muss getan werden, um Essen auf dem Tisch zu haben, für Geld, für Kleidung und ein Heim. Arbeit hieß seinerzeit, mit der Sonne aufzustehen, sein Tagwerk zu verrichten und abends müde auf den Strohsack oder das Bett zu fallen. Ohne Perspektive, Karriereplanung oder Rentenabsicherung. Allein die Adligen konnten aus diesem Mechanismus ausbrechen: Sie mussten gar nicht arbeiten, sondern konnten sich der Kunst, der Wissenschaft oder der Religion widmen. Schnöde Arbeit verwirrte den Geist und hielt einen ab von der Betrachtung der schönen Künste, den Studien der Mathematik und den diplomatischen Verpflichtungen. Arbeit bedeutete in der Regel Knochenarbeit und war ein Garant für körperliche Schäden, frühes Altern und einen stillen Tod. Bauern und Handwerker konnten ein Lied davon singen.
Mit der Aufklärung setzte sich ein bislang unbekanntes Phänomen durch und eroberte langsam, aber sicher die Arbeitswelt: das Büro. Der Autor Hajo Eickhoff pointiert scharf, dass im 17. und 18. Jahrhundert »Beamte, mathematisch versierte Kaufleute und Versicherungsexperten, Geistesarbeiter und Kanzleiarbeiter