Beschreibung der Welt. Марко ПолоЧитать онлайн книгу.
Monstern und Schimären, als dass eine authentische Individualität den Hirngespinsten den Garaus machte.
Erst als Ammianus Marcellinus am Ende des 4. Jahrhunderts in seiner Römischen Geschichte erwähnte, dass Zinnen hoher Mauern, »die sich wie im Kreis zusammenfügen«, die Sitze der »Seres« umgeben, wurde ein verbürgter Stein ins Mosaik der Informationen gelegt. Und als Prokop um 550 in einem Abriss der Gotenkriege darauf zu sprechen kam, wie der Imperator Justinian zwei Mönche dazu gebracht hatte, Eier »einer gewissen Art von Würmern« nach Europa zu schmuggeln, war das Geheimnis um den Ursprung der Seide gelüftet und das Reich der Mitte symbolisch seiner Abschirmung beraubt.
Dass dies in einer Phase des Niedergangs der griechischen und römischen Traditionen und des Aufstiegs der islamischen Kultur geschah, hatte zur Folge, dass weiterführende Auskunft über China nächstens von arabischen Autoren zu erwarten war. Denn hatte nicht der Prophet in einem Hadith dazu aufgerufen: »Suchet Wissen und Wissenschaft, und wenn es in China wäre«?
Leider zeigten die Erträge aus jener Weisung, dass »China« bloß so verstanden wurde, als wenn ein Berliner heute »jottwede« sagt und damit etwas meint, das »janz weit draußen« liegt.
Eine Ausnahme bildete anfangs zwar die 851 festgehaltene Erinnerung des Kaufmanns Sulaimān von Basra an den Liebreiz der Landschaften Chinas und die Anlage seiner Städte, die Hofhaltung der Machthaber und Wieselei ihrer Schranzen, die Rechts- und Wirtschaftsordnung, die Ernährung der Leute und ihre Bestattungsfeiern – zudem an Anstößigkeiten wie jene, dass sich die Chinesen »nicht mit Wasser waschen«. Dann jedoch, nach diesem vielversprechenden Ansatz zu einer Völkerkunde, erzählte der Geograph Ibn Chordadhbeh um 900 in seinem Buch der Reisen und Königreiche lediglich wieder vom Güterverkehr zwischen dem Nahen Osten und China, »as-Sin«, und lieferte ansonsten keinerlei Neuigkeiten mehr – so wenig wie sein Kollege al-Istahri aus Persepolis ein Menschenalter nach ihm in einem Werk, das bezeichnenderweise denselben Titel trägt wie das Itinerar des Ibn Chordadhbeh, Buch der Reisen und Königreiche, irgendwelche Ergänzung machen konnte. Wie eh und je beeindruckte zuvörderst die enorme Distanz zwischen dem Hier und dem Dort: »Von Kolsum [am Roten Meer] bis China beträgt die Reise in gerader Linie ungefähr zweihundert Stationen«. Also rund neun Monate.
Mochten sich bisweilen auch Details einfinden wie 947 in der Übersicht über Die Goldwäscherstätten und Edelsteinminen des al-Mas’ūdi, blieb doch das Reich der aufgehenden Sonne für die Bewohner des Morgen- und des Abendlands, was es von Anfang an war: eine Terra incognita, in der sich allerdings einträgliche Abschlüsse tätigen ließen. Einen Geographie und Ethnographie verbindenden Forschungs- und Mitteilungsdrang hatte innerhalb von zwei Millennien keiner ihrer Besucher jemals dokumentiert, sodass sie nach wie vor ein Hort mit sieben Siegeln war. Noch als sich der flämische Franziskaner Wilhelm von Rubruk im Sommer 1254 in Karakorum aufgehalten und von dort aus einen Abstecher nach Tibet gemacht hatte, konnte er von dem, was hinterm Horizont verborgen war, schwerlich mehr berichten als: »Dahinter kommt Groß-Kataia, dessen Bewohner im Altertum, glaube ich, Serer hießen.«
Welch ein Vermögen an Wissen hatte dagegen ein Venezianer erworben, bevor er nach langer Abwesenheit von zu Hause im Jahr 1295 aus China in seine Vaterstadt heimgekehrt war!
Sein Name: Marco Polo.
In der Lagune an den oberen Ufern des Adriatischen Meeres gab es viele Familien, die in der Form »Polo« den Namen des Apostels Paulus trugen, der »verkündigen sollte unter den Heiden«. Polos gab es in Chioggia, dem Hafen südlich von Venedig; ferner im Kerngebiet der Stadt selbst; darüber hinaus auf Torcello, dem Bischofssitz im Norden; sowie im östlich gelegenen Jesolo, bei der Mündung der Piave … ja, noch im dalmatinischen Šibenik, unweit von Split, waren Polos angesiedelt. Kurzum, zwischen all den Martinos und Vitales, Andreas, Marcos, Lazzaros, Giovannis und Domenicos ist keine Linie zu erkennen, sodass die Ungewissheit über die Abstammung des Großen Reisenden erst beendet ist, als zwei Brüder Polo in die Geschichte eintreten: Niccolò und Maffeo, die Söhne des Andrea Polo da San Felice.
Aber Vorsicht auch bei den Angaben zu ihnen …!
»Der Leser möge wissen«, hebt die Beschreibung der Welt scheinbar bestens unterrichtet an, dass die beiden »im Jahre 1250 unseres Herrn« mit allerlei Waren nach Konstantinopel gekommen, doch sodann, um ihren Gewinn noch zu steigern, für eine Weile nach Sudak (= Soldadia)2 auf die Krim gezogen seien, wo der dritte der Brüder Polo, Marco der Ältere, ein Kontor besaß. Danach hätten sie sich an der Wolga »ein Jahr« im Dunstkreis des Cinghis Khan-Enkels Berke aufgehalten, seien aber durch sich ausbreitendes Kriegsgetümmel immer weiter gen Morgen verschlagen worden, bis sie in Buchara (= Bokhara) ein wenig Ruhe gefunden hätten. Hier nun habe sie ein durchreisender Botengänger eingeladen, ihm an die Residenz eines anderen Cinghis Khan-Enkels zu folgen, nämlich an die des Großkhans Kublai Khan, worauf sie »ein ganzes Jahr« benötigt hätten, um den während der Wintermonate mit seinem Hofstaat in Peking (= Kambalu) weilenden Herrscher zu erreichen.
Durch das Erscheinen jener »Leute aus italischem Lande« neugierig geworden, wie deren Glaubenslehre zu bekräftigen sei, habe der Großkhan seine Gäste am Ende mit der Botschaft entlassen, sie möchten sich zum Papst verfügen und ihn darum bitten, sie in Begleitung von hundert Sachverständigen aufs Neue nach Osten zu schicken. Diese Männer sollten imstande sein, die Überlegenheit ihres Gottes über die Götzen der Mongolen darzulegen – außerdem würde er sich über etwas Öl aus der Lampe freuen, die am Heiligen Grab brennt.
Mit der Zusage, ihren Auftrag auszuführen, seien sie zur Rückreise aufgebrochen und »drei Jahre« unterwegs gewesen, bis sie am Golf von Iskenderun (= Giazza) die Küste des Mittelmeers erreicht und »im Monat April 1269« den Hafen von Akko (= Acre) angelaufen hätten. Von hier aus wollten sie nach Jerusalem reiten, um eine Phiole mit der Substanz aus dem Ewigen Licht abzufüllen. Doch sie wären kaum von Bord ihres Schiffes gestiegen, da hätten sie vernommen, dass Papst Klemens IV. soeben entschlafen sei.
In toto sei ihre Aufgabe daher nicht zu lösen gewesen (wer sollte die hundert Weisen berufen?), weshalb die beiden treuen Seelen fürs Erste Venedig angesteuert hätten, »wo Niccolò Polo fand, dass sein Weib, die er bei seiner Abreise schwanger zurückgelassen hatte, gestorben war, nachdem sie ihn mit einem Sohne beschenkt hatte, der den Namen Marco erhalten und jetzt in einem Alter von neunzehn Jahren stand«.
Man muss kein Rechenkünstler sein, um festzustellen, dass an der Schilderung des Abenteuers etwas nicht stimmt. Zwar deckt sich das Alter von Niccolòs Sohn (neunzehn Jahre) mit der Dauer der Abwesenheit seines Vaters (von 1250 bis 1269), doch ergeben weder die erwähnten noch die wahrscheinlichen Reise- und Verweilzeiten eine Summe von neunzehn Jahren. Die einzige vertrauenswürdige Aussage ist die zum Tod von Papst Klemens IV., der am 29. November 1268 stattgefunden hat.
Glaubhaft ist deshalb die Rückkehr von Niccolò und Maffeo Polo im Frühjahr 1269. Bedenkt man nun, dass ihre Awentura schwerlich neunzehn Jahre gewährt haben kann – dass also die Datierung ihrer Ankunft in Konstantinopel auf 1250 ohnedies hinfällig ist (wo kamen sie im Übrigen her? Wie lange waren sie zuvor unterwegs gewesen?), dann bekommt die Mitteilung sehr früher Handschriften der Beschreibung der Welt Gewicht, wonach Marco Polo bei der Rückkehr seines Vaters Niccolò nach Venedig »fünfzehn Jahre« alt und somit 1254 geboren war.
Marco Polo. Ausschnitt aus dem Titelholzschnitt einer spanischen Ausgabe von 1503
Auf diese Zahl hat sich die Forschung ergo geeinigt; das ominöse »1250« dürfte ein läppischer Schreibfehler sein.
Doch seien wir dem selbstsicheren Schusselkopf nicht gram: Hat er uns doch durch seinen Lapsus mit der »1250« und durch seine Mogelei mit den »neunzehn Jahren« einen Einstieg in das Thema »Marco Polo« aufgezwungen, der uns mitten hinein in die venezianische Ära (und Aura) versetzte. Ahnen wir nicht bereits, welche Geschäftstüchtigkeit in ihr waltete, welche Weite des Blicks, welch eifrige Bekehrungslust? Jäh waren Kreuzritter aufgetaucht, Mongolenkämpfer, Kaufleute. Das Trachten nach Gewinn vermengte sich mit dem Streben in die Ferne, und dieses durchmischte sich nun mit dem Sinnen auf ein gottgefälliges »Handeln« – womit