Beschreibung der Welt. Марко ПолоЧитать онлайн книгу.
erstrahlt und dadurch seinem Wesen Gefälligkeit verleiht. Alvise Zorzi hat diese Beschreibung mit den überlieferten Bildnissen Kublais verglichen, die einen gedrungenen Alten mit einem – in der Tat blutvollen – feisten runden Schädel zeigen, und sich prompt in seinem Schönheitssinn getäuscht gefunden: »Dies ist eine der wenigen Stellen, wo sich Marco weder als guter Beobachter noch als guter Berichterstatter erweist.« Aber erstens hat Zorzi das Sprichwort seiner lateinischen Ahnen vergessen, wonach »de gustibus non est disputandum«, also über ›Geschmäcker‹ nicht zu streiten ist; und zum Zweiten übersah er, dass Marco Polos offensichtliche Schönfärberei ein Warnsignal ausstrahlt für alle, die in der Idealisierung des Großkhans als Adonis einen »der wenigen« Ausrutscher wähnen, eine Unschärfe oder Gedächtnistrübung.
Nein! Dieses nicht enden wollende Schwärmen und Schwelgen ist reines Bewundern, ist Nachhall eines verjährten Behagens und gewiss in dem Moment, in dem es wahrgenommen wird, auch Nostalgie: Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit … Heimweh nach der Ferne. Und Kublai verkörperte sie in rosiger Anmut!
Hierin liegt die Suggestivität der Beschreibung der Welt. Denn stärkt es nicht den Glauben an das Gute, von einem zu lesen, der – wie Kublai gegen den Schuft Nayan – auszog, die Falschheit zu tilgen? Und erquickt es nicht die Seelen der Christen zu hören, dass einer wie Kublai ihre Schwestern und Brüder in der Diaspora gegen Spötter in Schutz nahm? Und ist es nicht – jetzt wird es allerdings heikel – eine Lust, sich auszumalen, wie das vonstattenging, wenn alle zwei Jahre »bis zu vier- oder fünfhundert der erlesensten jungen Mädchen« herbeigeschafft wurden, um in einer Endausscheidung (unter anderem durften sie nicht schnarchen!) zu bestimmen, welche zwanzig oder dreißig der mongolischen Jungfern für das Bett des Großkhans zurückbehalten wurden?
Überhaupt: die kleinen Unschicklichkeiten! Und die großen Zahlen!
In einer neugierig machenden Entrüstung, die dem Publikum am liebsten die Augen zuhalten würde, dann aber einen Spalt zum Hinschauen freilässt, werden in regelmäßigen Abständen die vermeintlich losen Sitten bei den durchwanderten Völkern geschildert. Dass zum Beispiel in der Nähe von Kerija (= Peyn) die Frauen sich einen neuen Mann nehmen können, sobald der alte mehr als zwanzig Tage abwesend ist – und dass dasselbe vice versa für die Männer gilt (nota bene: Die Polos waren unterdessen Hunderte von Wochen nicht mehr daheim). Oder dass in Uiguristan (= Kamul) die Hausherren ihren Besuchern die eigenen Weiber aufdrängen und sich dann zur Gewährleistung eines zwanglosen Aufenthalts ihrer Gastfreunde absetzen. Oder die Leute von Xichang (= Kaindu), die die Fremden regelrecht in ihre Hütten zerren, sich dann rücksichtsvoll davonschleichen und erst wiederkehren, wenn sie ein entsprechendes Freizeichen ihrer Gattinnen erhalten.
Mochten die Gefühle der Zuhörer oder Leser bei derartigen Nachrichten noch gemischt gewesen sein, so dürften sie unter dem Eindruck der mitgeteilten Mengenangaben aus dem Staunen nicht herausgekommen sein. Alles im Umfeld des Großkhans war riesig. Im Kampf gegen Nayan hatte er im Handumdrehen dreihunderttausend Reiter aufgestellt. Allein seine Leibwache bestand aus zwölftausend Gardesoldaten. An seinem Geburtstag huldigten ihm zwanzigtausend Fürsten. Und als Präsent bekam er »nicht weniger als hunderttausend Pferde«. Jahr für Jahr!
Die Begeisterung des »weit ausgreifenden Wanderers« – wie ihn Goethe 1819 in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans nannte – an immensen Summen setzte sich fort, als er im Auftrag des Großkhans durch dessen Reich zog, um zu berichten, was außerhalb des Hofes ›draußen im Lande‹ geschah. Über fünfundzwanzigtausend Dirnen waren in Peking am Werk. Mehr als zweihunderttausend Pferde beschäftigte die Post. Und die Tibeter hielten ihre Töchter erst dann für heiratsfähig, nachdem sie karawanenweise von durchziehenden Händlern (hört! hört!) beschlafen worden waren. »Eine schmähliche Gewohnheit« … und ein attraktives Skandalon.
Annähernd siebzehn Jahre blieben die Polos bei Kublai Khan. Bis dahin streiften sie durch China, Vietnam, Korea (= Karli), Burma (= Mien) und 1284 – möglicherweise – durch Ceylon. Dabei notierte Marco Polo wie auf seiner Anreise, was er gesehen und gehört hatte. Er war überrascht von Erdbrocken, die gleich Kohle brennen: »Diese Steine haben keine Flamme, außer dass sie ein wenig auflodern, wenn sie angezündet werden, aber während ihres Brandes strömen sie viel Hitze aus.« Er hielt fest, welche Waren wo gehandelt wurden und wie praktisch die Erfindung des Papiergeldes ist – nicht zuletzt für den Großkhan: »In der Stadt Kambalu befindet sich die Münze des Großkhans, von dem man in Wahrheit sagen kann, dass er das Geheimnis der Alchimisten besitze […].« Über ähnliche Zauberkraft muss der König von Japan (= Zipangu) verfügt haben, dessen Palast ein Traumschloss war. »Das ganze Dach ist mit Gold plattiert, gerade so wie wir die Häuser, oder richtiger die Kirchen, mit Blei decken.« Freilich, den märchenhaften Reichtum dieser Insel in Augenschein zu nehmen war Marco Polo nicht vergönnt. Daher malte er ihn aus. In blendenden Neonfarben.
Wo alles so anders war, als es Marco aus Venedig gewohnt war, konnten sich die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung allzu leicht verschieben: Denn dass Niccolò und Maffeo Polo zur Belagerung von Xiangyang (= Sa-janfu) beispielsweise Katapulte, »wie man sie im Abendlande brauche«, konstruiert hätten, ist eine entschieden falsche Nachricht. Die Erbauer der Apparate hießen laut Auskunft chinesischer Quellen Ala-ud-din und Ismail und waren ergo Muslims (ganz zu schweigen davon, dass die Blockade schon 1274, ein Jahr vor dem Eintreffen der Polos in China, beendet worden war).
Mag sein, dass Marco Polos Flunkerei ein Fingerzeig auf eine gewisse Überfütterung mit Eindrücken ist. Darum war es vielleicht auch die Furcht der Polos, den Bezug zur Realität zu verlieren, zu ihrer Wirklichkeit, ihrer Heimat, ihren Familien, die sie schon seit Langem daran denken ließ, den Großkhan um ihren Abschied zu bitten. Zweifellos maßgeblich aber war: Als Kaufleute konnten sie rechnen. Daher fürchteten sie, dass sie nach dem Tod ihres Wohltäters Kublai, der auf die achtzig zuging, in die Ränkespiele seiner Erben verstrickt werden könnten. Sie kannten schließlich die mongolische Historie und erinnerten sich an die Wirren nach dem Ende Cinghis Khans.
Marco Polo in mongolischer Tracht, Darstellung von 1754
Da ergab sich eine günstige Gelegenheit.
Argon, der König eines in Persien ansässigen Tataren-Stamms, war kürzlich Witwer geworden. Deshalb hatte er sich an den Großkhan gewendet, er möge ihm eine Angehörige aus dem Clan seiner ersten Gemahlin schicken, auf dass er mit ihr eine zweite Ehe eingehen könne. Da Kublai bereit war, dieser Bitte zu entsprechen, übernahmen es die Polos, die junge Braut zu ihrem Gatten in spe zu geleiten.
Die Reise von Quanzhou führte anfangs um das südostasiatische Festland herum, schlängelte sich dann durch die Malakkastraße zwischen Sumatra und Malaya, berührte die Nikobaren und Andamanen und daneben, im Westen des Golfs von Bengalen, Ceylon, arbeitete sich Hafen für Hafen die Malabarküste hinauf, überquerte das Arabische Meer und erreichte nach einundzwanzig Monaten die noch wohlvertraute Schiffbauerstadt Hormus. Dort stellte sich heraus, dass Argon in der Zwischenzeit selbst gestorben war, worauf die Braut von Nordchina kurzerhand dessen Filius angetraut wurde und die Polos befreit vom Ballast ihrer Entourage Kurs auf die Heimat nehmen konnten. Nach Stationen in Trabzon (= Trebisond) und Konstantinopel sowie auf der Insel Euböa (= Negropont) gelangten sie schließlich »frisch und gesund und mit großen Reichtümern« 1295 in Venedig an. Sie hatten ihre Familien seit vierundzwanzig Jahren nicht gesehen.
Dass sich um eine Rückkunft nach derart langen Irrfahrten Legenden bilden mussten – wen wundert’s? Und so wurde um die Männer alsbald ein Szenario nach dem Motto ›Heimkehr des Odysseus‹ erfunden. Keine Commedia dell’Arte hätte eine frappantere Metamorphose von drei Zerlumpten aufführen können: Beim Finale begannen Niccolò, Maffeo und Marco Polo gestenreich ihre Kleider aufzutrennen, und hervorkollerten »kostbare Geschmeide in großer Zahl, als da sind Rubine, Saphire, Karfunkel, Diamanten und Smaragde«. Hinter solchen Phantasien verlor Marco Polo für die Zukunft jede Kontur.
Was tat er nach seiner Rückkehr? Wo wohnte er? Und wie kam es, dass er sich 1298 in der Gefangenschaft der Genueser befand (aus der er am 28. August 1299 entlassen wurde)? Wo war er in solche Haft geraten? Und vor allem: