Gott denken. Holm TetensЧитать онлайн книгу.
des Menschen in der Welt in dem Augenblick in Erfahrung bringen, indem wir behaupten: Obwohl Gegenstände der Art A in Wahrheit Gegenstände der Art A1,…,An sind, erscheinen sie uns anders, oder vermögen wir ihre wahre Natur erst einmal auf Anhieb nicht zu erkennen? Woher will man von vornherein wissen, dass man damit nicht etwas überaus Interessantes und Wichtiges über die Welt und unsere besondere Stellung in ihr entdeckt haben könnte?
Jedenfalls ist man in den Wissenschaften immer wieder gut damit gefahren, an Sätzen trotz abweichender Erfahrungen festzuhalten. Ein Beispiel mag das kurz illustrieren19: Lange Zeit glaubte man, dass Wärme ein Stoff sei, der materiellen Objekten bei Erwärmung zugeführt und bei Abkühlung entzogen wird. Gleichzeitig kannte man schon lange Zeit einen Spezialfall des Energieerhaltungssatzes, nämlich, dass bei bestimmten Bewegungsvorgängen die Summe aus Bewegungsenergie (kinetische Energie) und Lageenergie (potenzielle Energie) erhalten bleibt, während bei anderen Bewegungsvorgängen (z.B. reibungsbehafteten Vorgängen) Energie scheinbar verloren geht. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen Physiker auf die Idee, trotzdem die Energieerhaltung zu unterstellen und den scheinbaren Verlust von Energie bei reibungsbehafteten Vorgängen damit zu erklären, dass die dabei entstehende Wärme in Wahrheit kein Stoff ist, sondern eine weitere Energieform. Berücksichtigt man diese Energieform, ist die Energie auch bei reibungsbehafteten Vorgängen eine Erhaltungsgröße. Gerade indem die Physiker trotz scheinbar widerstreitender Erfahrungen den Energieerhaltungssatz nicht opferten, entdeckten sie etwas überaus Wichtiges: Wärme ist kein Stoff, sondern eine Energieform.
Das Beispiel lässt sich auf die Metaphysik übertragen. Auch ein Metaphysiker ist gut beraten, nicht bei jeder erstbesten empirischen Anomalie seine Kernbehauptung zu opfern, sondern ebenso ernsthaft zu durchdenken, ob sich die scheinbar gegenläufige Erfahrung nicht auf informative Weise erkenntnistheoretisch erklären lässt. Wir gewinnen bestimmte relevante Erkenntnisse über uns nur, indem wir unsere Erfahrungen im Lichte der metaphysischen Kernbehauptung »Alle realen Gegenstände sind von einer der Arten A1 bis An oder lassen sich auf eine bestimmte Weise auf sie zurückführen« interpretieren und sie gerade angesichts scheinbar widerstreitender Erfahrungen nicht fallenlassen. So betrachtet spielen metaphysische Kernbehauptungen die Rolle von Rahmenannahmen, die bestimmte Erfahrungen allererst ermöglichen und deshalb durch Erfahrung nicht zu widerlegen sind.20
4. Die Stagnation des Naturalismus
Kehren wir nach diesem kleinen Exkurs über Metaphysik zum Naturalismus zurück, der inzwischen zur Metaphysik so vieler Philosophen aufgestiegen ist. Viele glauben, der Naturalismus sei keine Metaphysik, denn er halte sich strikt und ausschließlich an die Ergebnisse der Wissenschaften. Über diesen Glauben vieler Philosophen kann man sich nur wundern. Er träfe zu, behauptete der Naturalismus lediglich, dass es die Erfahrungswelt gibt und sie durch die Wissenschaften zureichend erkannt wird. In der Tat, wer wollte das bezweifeln? Der Naturalist hingegen behauptet etwas anderes: Es gibt nur die durch die Wissenschaften erkennbare Erfahrungswelt.
Der Naturalismus gibt wie jede Metaphysik Auskunft über das Ganze der Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr. Nun drängen sich zwei Arten von Gegenständen derart auf, dass jedes metaphysische Panorama vom Ganzen der Wirklichkeit mit ihnen zurechtkommen muss. Da sind zum einen die materiellen Dinge und Prozesse in der Welt, wie insbesondere die Naturwissenschaften sie beschreiben und erklären. Da sind zum anderen wir Menschen als erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte. Jede ernstzunehmende metaphysische Auskunft über das Universum und unseren Platz in ihm ist daher mit der Frage konfrontiert: Wie haben wir uns die Wirklichkeit im Ganzen vorzustellen, damit wir verstehen, wie materielle Dinge und Prozesse und zugleich erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte zusammen ein und dieselbe Welt bilden?
Die verschiedenen naturalistischen Antworten auf diese unausweichliche Frage leiden alle unter derselben Schwierigkeit: Sie können uns nicht wirklich verständlich machen, warum in einer an sich rein materiellen Erfahrungswelt eines Tages erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte mit ihrer spezifischen Ich-Perspektive die Bühne betreten haben. Ich möchte mit vier Argumenten schlaglichtartig beleuchten, warum der Naturalismus hier in erheblichen Erklärungsnöten steckt.
Das erste Argument findet sich im wesentlichen bei Thomas Nagel.21 Es ist ein wunderbar einfaches Argument. Sollte sich die Wirklichkeit vollständig durch die Erfahrungswissenschaften beschreiben und erklären lassen, müsste sie aus der objektiven Beobachterperspektive vollständig beschreibbar sein. Der Leser möge sich vorstellen, er wäre mit einer solchen Beschreibung konfrontiert. Dem Anspruch nach würde darin auch alles über ihn gesagt, was über ihn zu sagen wäre. Oder würde doch noch etwas fehlen?
Für jeden von uns würde sogar das Entscheidende in dieser angeblich vollständigen Beschreibung fehlen. Jeder von uns müsste noch erkennen: »Übrigens, die Person, von der da unter der Bezeichnung N.N. so ausführlich die Rede ist, das bin ich selber.« Und diese Feststellung, obwohl für jeden das A und O, um überhaupt ein Teil der objektiv beschriebenen Welt sein zu können, käme schon deshalb in der erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung nicht vor, weil dort über Personen intersubjektiv mit Eigennamen oder Kennzeichnungen geredet werden muss, während wir unsere Selbstidentifizierung mit einer objektiv beschriebenen Person nur mit dem indexikalischen Ausdruck »Ich« vollziehen können. Bereits diese einfache Beobachtung belegt die Schwierigkeit, erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte und ihre besondere Erste-Person-Perspektive verständlich in einer objektiven, rein materiellen Welt zu plazieren.
Prämisse: Für jede in der Beobachterperspektive vollzogene Beschreibung von Tatsachen, die eine bestimmte Person betreffen, muss diese Person noch den Gedanken in der Erste-Person-Perspektive in Ich-Sätzen vollziehen, dass sie es ist, von der die Beschreibung handelt.
Prämisse: Diese Ich-Sätze, in der eine Person sich selbst identifiziert, sind nicht Teil einer erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit.
Prämisse: Ohne diese Selbstidentifizierung von Personen ist aber jede erfahrungswissenschaftliche Beschreibung von Personen unvollständig (und für die betreffende Person selber nutzlos).
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Konklusion: Also sind erfahrungswissenschaftliche Beschreibungen von Personen unvollständig.
Nun zum zweiten Argument. Es hat eine ehrwürdige Tradition, denn bereits René Descartes (1596–1650) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) verdanken wir wirkungsmächtige Versionen dieses Arguments. Eine moderne und überaus elegante Version hat jüngst Franz von Kutschera22 (*1932) vorgelegt. Das psychologische Vokabular, mit dem wir im Alltag uns selbst, unsere Erlebnisse, unsere Gedanken, unsere Wahrnehmungen und so weiter aus unserer Erste-Person-Perspektive beschreiben, kann nicht definiert oder begrifflich expliziert werden mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Vokabulars. Daher lässt sich aus rein physikalischen Prämissen niemals logisch-begrifflich auf mentale Sachverhalte schließen. Mithin scheitert eine rein physikalische Erklärung des Mentalen. Denn eine Erklärung hat immer die Form eines Schlusses, und eine physikalische Erklärung des Mentalen müsste ein Schluss aus rein physikalischen Prämissen auf mentale Sachverhalte sein.
Prämisse: Das Mentale wird nur dann naturalistisch verstanden, wenn es möglich ist, logisch-begrifflich von physikalischen Aussagen auf Aussagen über Mentales zu schließen.
Prämisse: Es ist aber nicht möglich, logisch-begrifflich von physikalischen Aussagen auf Aussagen über Mentales zu schließen.
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Konklusion: Also ist es nicht möglich, Mentales rein naturalistisch zu verstehen.
Wer aus physikalischen Sachverhalten auf mentale Sachverhalte schließen will, benötigt unter seinen Prämissen immer mindestens ein Brückenprinzip23, das aus beiden Vokabularen, dem physikalischen und dem (alltags)psychologischen, zusammengesetzt ist. Brückenprinzipien, auf die Naturalisten zielen, haben die Form: »Die mentale Eigenschaft