Fettnäpfchenführer Taiwan. Deike LautenschlägerЧитать онлайн книгу.
flächendeckend ganze Balkone und Vordächer. Durch Risse drängen sich kleine Unkrautblumen. Gegenüber auf der Dachterrasse sitzt eine alte Frau, gerade noch hat sie Wäsche aufgehängt, jetzt beobachtet sie Sophie. Sie nicken sich zu und lächeln.
Hinter Sophie raschelt es. Queenie ist auch aufgestanden.
»Zǎo’ān! – Guten Morgen!«
Viel haben sie sich gestern nicht mehr unterhalten können, denn plötzlich hatte Sophie eine bleierne Müdigkeit überfallen.
»Guten Morgen! Taipeh ist wunderschön«, seufzt Sophie entzückt.
Queenie lächelt.
»Deutschland und Europa sind bestimmt viel schöner. Übrigens, das hier ist der Wasserspender. Vorsicht, rechts beim roten Hahn kommt heißes Wasser, in der Mitte beim rosafarbenen lauwarmes. Daneben sind Tassen, die du benutzen kannst.«
In Sophies Hals kratzt es schon, erst jetzt merkt sie, wie durstig sie ist. Seit dem Apfelsaft zu Mittag gestern im Flugzeug hat sie nichts mehr getrunken. Ein Glas kaltes, prickelndes Wasser, denkt sie, nimmt eine der Tassen und drückt auf den blauen Hahn.
»Bùxíng a! – Das geht doch nicht! Du kannst doch nicht kaltes Wasser trinken! Und das auch noch morgens auf leeren Magen. Willst du denn krank werden?«
»Ähm, nein, aber …«
Weiter kommt sie nicht, denn Queenie beginnt einen Vortrag über traditionelle chinesische Medizin, und irgendein qì, das durch den Körper fließt. »Hallo?«
»Ja?« Sophie war in Gedanken weit weg. Sie hat sich gerade vorgestellt, wie dieses qì aus ihren Handflächen schießt und als rosa Energiestrahl auf Jan trifft – ganz wie in einem Trickfilm. Und dann hat sie sich gefragt, ob man in Südamerika auch kein kaltes Wasser trinken darf.
»Gehen wir frühstücken! Um die Ecke ist ein Frühstücksladen. Hast du zugenommen? Auf dem Foto, das du mir geschickt hast, hast du dünner ausgesehen. Meine Mutter und meine Großmutter kommen auch mit«, fährt sie fort, ohne Sophies Antwort abzuwarten. Sophie fasst an ihren Bauch. Jan-Kummer-Speck nennt sie die kleine Welle unter ihrem T-Shirt. Sie schluckt kurz über Queenies direkte Worte, dann springt sie auf.
»Ja, los zum taiwanischen Frühstücksdings!«
Mutter und Großmutter wohnen gleich eine Etage tiefer. Sie sehen Sophie erstaunt von oben bis unten an, aber Sophie stört das nicht. Sie fühlt sich leicht und unbekümmert: Sie ist in Taiwan, die Sonne scheint und damit ist sie in ihrer dünnen Strickjacke endlich auch wettergemäß angezogen. Und gleich wird sie wissen, was ein Frühstücksladen ist.
»Nǐ hǎo!«, grüßt Sophie.
»Chīfàn le méiyou?«, fragt die Mutter.
»Ob du schon gegessen hast«, übersetzt Queenie.
»Nein«, Sophie schüttelt geduldig den Kopf. Natürlich nicht, denkt sie bei sich, deshalb gehen wir ja schließlich zum Frühstücksladen.
»Chia̍h-pá-bô?«, fragt die Großmutter.
»Ob du schon gegessen hast«, übersetzt Queenie wie eine hängengebliebene Schallplatte.
»Nein, noch nicht«, Sophie schüttelt wieder den Kopf und stutzt. »Deine Großmutter hat doch eben etwas ganz anderes gesagt als deine Mutter. Selbst wenn ich kein Chinesisch verstehe, aber das merke ich schon.«
»Das war nicht Hochchinesisch. Sie hat Taiwanisch mit dir gesprochen. Sie beide haben gefragt, ob du schon gegessen hast. Diese Frage ist hier eine Art der Begrüßung.«
Gleich am Ende der kleinen Gasse duftet es nach Frittiertem. Vor dem Frühstücksladen geht es zu wie in einem Bienenstock: Menschen kommen, rufen den Angestellten eine Bestellung zu und ziehen mit einer Tüte und einem Pappbecher wieder weiter. Geht man an der Kochtheke rechts vorbei, gelangt man nach hinten in den Sitzbereich. Unter Ventilatoren raschelt das Verpackungspapier der Essstäbchen auf Tischen, die von Plastikhockern umringt sind.
Während Queenie vorn am Tresen unzählige Frühstücksdelikatessen bestellt, betrachtet nun Sophie die zwei älteren Damen aus dem Augenwinkel. Beide haben eine kleine Statur, die jüngere ist vielleicht fünfzig, die ältere siebzig, sie sind einfach aber elegant gekleidet. Am Handgelenk tragen beide einen Reifen aus dunkelgrüner Jade. Ihre Haare sind frisch frisiert, der Lippenstift fein säuberlich aufgetragen. Die Großmutter hat links am Kinn einen kleinen Leberfleck, aus dem drei weiße lange Haare wachsen.
»You happy?«, fragt die Großmutter plötzlich.
»Hm? Ähm … yes!«, schwindelt Sophie. Und noch glücklicher wäre ich, wenn Jan zurückkommen würde, fügt sie in Gedanken dazu.
»Sie kann das sehen – an deinen abstehenden Ohren. Leute mit solchen Ohren sind glücklich, sagt man bei uns«, erklärt Queenie, die mit zwei Tellern zurück ist.
Sophies Ohren werden heiß. Erst habe sie zugenommen und nun wird noch der wunde Punkt unter ihren langen Haaren getroffen. Na, wer austeilt, der muss auch einstecken können. Und so lässt Sophie mutig durch Queenie fragen, warum sich ihre Großmutter denn nicht die drei Haare im Gesicht abschneide.
»Bùxíng a! – Das geht doch nicht! Damit würde man das Leben, also die Lebenszeit kurzschneiden«, schüttelt sie ungläubig den Kopf über so eine dumme Frage.
»Ja, natürlich«, nickt Sophie verständnisvoll.
Der Tisch steht voller Teller mit undefinierbaren Speisen, die aber köstlich duften. Es gibt Rettichkuchen, gefüllte Teigtaschen, in Öl frittierte Teigstangen, Eierkuchen zusammengerollt mit Käse und Gurkenstückchen, Reisrollen mit getrockneten, zerriebenen Fleischfasern und dazu warme Sojamilch. Alles ist herzhaft, nur die Sojamilch ist süß. Queenie fotografiert jede Speise, dazu sich selbst neben Sophie. Die findet, dass Queenie ein merkwürdiges Gesicht auf jedem Foto macht: ganz so wie auf den Fotos von der Couchsurfing-Seite reißt sie die Augen weit auf, bläst die Wangen voll Luft, sticht mit einem Finger hinein oder streckt Zeige- und Mittelfinger zu einem V aus und hält sie ans Gesicht.
»Vorsicht, das hat alles viele Kalorien«, raunt Queenie, als sie ihr Fotoshooting beendet hat.
»Skinny too much! More eat!«, befiehlt die Mutter.
Ja, was denn nun? Zu dick oder zu dünn?, fragt sich Sophie und isst dann einfach ihrem Appetit und Hunger nach. Um sie herum schmatzt, schlürft, spuckt und rülpst es, wie es gar nicht so recht zu den drei Damen passen will. Aber dass die Tischsitten in Asien wohl anders sein sollen, hat Sophie schon oft vor ihrer Abreise gehört. Bùxíng a! – Das geht doch nicht!, denkt sie erst, dann tut sie es ihnen gleich. Es schmeckt ja auch so vorzüglich, dass man ruhig mal für eine Weile die gute Kinderstube vergessen kann.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Die Direktheit, mit der Queenie und ihre Großmutter Sophies Äußeres kommentieren, ließ Sophie schlucken. Gut, dass Sophie ihren Ärger unterdrückt und darüber hinweggesehen hat. Das war weder Kritik noch persönlicher Angriff, sondern eine Art, Zuwendung für Sophie zu zeigen.
Ähnlich Gutes hatte Queenie auch im Sinn, als sie Sophie das warme Wasser angeboten hat. Kalte Getränke sind nach der traditionellen chinesischen Medizin sehr ungesund. Der Temperaturunterschied soll zu viel Feuchtigkeit im Körper verursachen und das qì – die Lebensenergie – aus dem Gleichgewicht bringen. Trotzdem sind, ganz im Widerspruch zur traditionellen chinesischen Medizin, ganzjährig und besonders im Sommer eisgekühlte Tees, Eiskaffees und geschabtes Eis übergossen mit Kondensmilch und Früchten bei Jung und Alt sehr beliebt.
Was können Sie besser machen?
Sollte ein Taiwaner sich eine Anmerkung zu Ihrem Äußeren erlauben, nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Taiwaner