Fettnäpfchenführer Finnland. Gudrun SöffkerЧитать онлайн книгу.
trainierst du für den Marathon?« Er blickt kurz über seine Zeitung zu ihr hinüber.
Greta starrt zurück, ein bisschen beleidigt. »Ich war joggen.«
»Um diese Uhrzeit? Respekt«, hört sie undeutlich seine Stimme.
Greta holt aus ihrem Schrank erstmal eine Plastikdose und schluckt zwei runde rote Kapseln. Als sie gerade in ihr Zimmer gehen will, dreht Lauri sich zu ihr um und sieht sie vorwurfsvoll an.
»Bei deinem Enthusiasmus bekomme ich glatt ein schlechtes Gewissen. Du warst fast ’ne Stunde unterwegs. Und ich hab jetzt höchstens noch 35 Minuten ...«
Betont langsam steht er auf und lässt ein etwas spöttisches Lachen erkennen, nicht unsympathisch, aber ein bisschen mysteriös. »Was ist das denn?« Er schüttelt Gretas Plastikbüchse mit dem Preiselbeeraufdruck in seiner Hand.
»Finnische Vitamine.« Greta erläutert ihm im Handumdrehen die besonderen Eigenschaften dieser pulverisierten Natur: »Nach dem Sport hilft das dem Körper bei der Regeneration. Ihr Finnen habt da tolle Dinge entwickelt.«
Erst als Lauri mit einem stummen »Hm« an ihr vorbeigehen will, bemerkt Greta, dass auch er in voller Sportausrüstung steckt.
»Nimm dir nachher ruhig zwei. Tut gut!«
»Dankeschön, ich bin für so was nicht zu begeistern. Wenn ich Vitamine brauche, greife ich in den Kühlschrank.«
Greta entdeckt dort eine fast volle Glasflasche.
»Preiselbeersirup, und zwar echtes. Wer weiß, was dein Körper mit diesen Präparaten anstellt. Gut sind sie jedenfalls nicht.«
Greta widerspricht. »Der Verkäufer in meinem Reformhaus hat mir erzählt, dass Finnen eine halbe Milliarde Euro für Nahrungsergänzungen ausgeben. Und dass das bei naturreinen Produkten nicht schädlich sein kann.«
»Wenn du dem vertrauen willst. Ich habe vor ein paar Jahren eine Studie gelesen, dass zugeführte Vitamine den Körper sogar schwächen können. Und warum viel Geld ausgeben, wenn’s auch anders geht?«
»Jeder dritte Finne nimmt solche Mittel«, meint Greta kopfschüttelnd.
»Ja«, stimmt Lauri zu, »besonders sportliche Frauen unter 35 Jahren. Als ob ihr’s nötig hättet!«
»Vielleicht sind wir einfach gesundheitsbewusster und nicht so altmodisch!«
Für die letzten Worte muss sie ihm ins Treppenhaus folgen, denn Lauri hat unvermittelt zu laufen begonnen und ist schon unterwegs. Grüßend, aber kommentarlos hebt er die Hand und verschwindet. Da hört Greta ein verdächtiges Geräusch hinter sich. Leise und mit einem fast hinterhältig sanften Klicken schließt sich die Wohnungstür.
Sopii!
Laufen, sich bewegen, trainieren, Sport treiben, den Körper fit halten, mit allen Varianten der Ertüchtigung wird Greta Anerkennung finden. Morgens durch die Innenstadt Helsinkis zu sausen ist eher ungewöhnlich, die vielen parkähnlichen Anlagen und Fußwege in den Vorstädten sind sehr viel beliebter bei Joggern, denn wer möchte schon um Aktentaschen Slalom laufen, dauernd an Ampeln stehen bleiben und den Berufsverkehr einatmen. Ein Problem ist es aber nicht. Unter www.ulkoilukartta.fi findet sich ein aktivitätsbezogener Stadtplan des Großraums Helsinki. Ulkoilu bedeutet wörtlich etwas wie »Draußensein«. Es geht also darum, die schönsten Orte für jede Bewegung im Freien zu finden. Wie viel Klischee darin steckt, dass die Finnen in der Natur am liebsten entspannen, sollte man all diejenigen fragen, die das in Interviews und Umfragen beständig von sich geben. Und das zieht sich durch alle Berufe, Generationen und sozialen Gruppen. Wer in sportlicher Betätigung auch eine bestimmte Geisteshaltung sieht, kann dafür einen speziellen finnischen Begriff verwenden: sisu (siehe »Hast du sisu?«). Man trainiert sich, wappnet sich gegen Widerstände und hält durch. Seitdem auch in Mitteleuropa die Sportangebote außerhalb der Vereine in Fitnessstudios, Trainingskursen und Ähnlichem enorm zugenommen haben, ist man hierzulande so weit finnlandisiert, dass man seine Gewohnheiten einfach dorthin mitnehmen kann.
Ebenso stimmig ist ihre Vorstellung vom Interesse der Finnen an passgenauen Nahrungsergänzungsmitteln. In den letzten Jahren sind die Verkaufszahlen allerdings auf dem (hohen) Niveau von etwa 500 Millionen Euro pro Jahr stagniert. In Kundenbefragungen wurde herausgefunden, dass immer mehr Menschen Sorge vor Nebenwirkungen haben und einen konkreten Effekt der oft teuren Präparate sehen wollen. Korrekt ist auch Lauris Hinweis, dass besonders junge Frauen in Finnland immer noch solchen Produkten zugeneigt sind. Angesichts des allgemein großen Interesses an gesundheitsförderlichem Essen (siehe »Schmeckt’s?«) ist ein freier Meinungsaustausch darüber generell üblich.
6
WILLST DU DAS WIRKLICH?
VON NÄHE UND DISTANZ
Seit 19 Uhr klingelt es immer wieder an der Tür. Greta sitzt in ihrem Zimmer und liest, also, sie versucht zu lesen. Aber der Lärm auf dem Flur und im Wohnzimmer stört sie immer wieder. Nein, genau genommen stört er sie gar nicht, er steigert nur ihre Unruhe. Eigentlich geht es mich ja nichts an, denkt sie und blättert die nächste Seite um. Als sie sich wieder in ihr Buch vertiefen will, merkt sie, dass sie die letzten Zeilen gar nicht mehr richtig gelesen hat.
Lauri hat angekündigt, dass heute ein paar Freunde von ihm kommen würden für einen Filmabend. In der Küche stapeln sich Pizzakartons, und Greta hat bereitwillig Joghurt, Milch, Butter und Käse aus dem Kühlschrank geräumt, damit dort Platz ist für Cola und Bier.
»Wird das ’ne Party? Wie viele kommen denn? Hast du Geburtstag?«
Lauris Antwort war eher knapp: »Na ja, mal sehen. Nein.«
Greta hat extra sorgfältig abgewaschen, das gesamte Geschirr ordentlich weggestellt und fast noch angefangen, die Fenster zu putzen. Nicht damit alles top-sauber aussieht, wenn die Gäste kommen, sondern weil sie gehofft hat, dass Lauri irgendwann mehr erzählen würde. Vor allem brennt ihr die Frage auf den Nägeln, ob sie dabei sein sollte nachher. Immerhin ist das ja eine WG und ihr gemeinsames Wohnzimmer, aber Lauri ist so kurz angebunden, dass sie sich nicht getraut hat zu fragen. Oder ist es selbstverständlich, und es wäre unhöflich, nicht zu kommen? Da erscheint ein ganzer Schwung Finnen, endlich mal die Gelegenheit, Leute kennenzulernen, und sie soll sich in ihr Zimmer einschließen? Kommt gar nicht infrage. Wütend wirft Greta ihr Buch aufs Bett. Betont gelassen schlendert sie in die Küche und holt sich etwas zu trinken. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, lautes Lachen und Gespräche dringen heraus, von denen sie kein Wort versteht. Das wär natürlich auch albern, wenn alle Englisch reden müssten, nur weil sie dabei ist.
Den Müll könnte man noch mal rausbringen – erledigt. Wie viel Kaffee ist denn noch da? Viel. Der Ofen jault, so ganz neu ist er nicht mehr, und drei Pizzen duften, braten, haben eine knusprig-braune Farbe angenommen, und der Käse wirft schon Blasen. Sie müssten jetzt doch unbedingt sofort mal dringend rausgenommen werden. Greta macht einen entschlossenen Schritt in Richtung Wohnzimmer, guckt kurz hinein, findet Lauri so schnell gar nicht, aber irgendwo muss er doch sein. »Die Pizza sieht fertig aus.« Schon ist sie wieder weg. Ob jemand ein »Danke« gerufen hat, konnte sie gar nicht mehr hören.
Und jetzt? Jetzt wäre es doch an der Zeit, dass die Jungs sie mal einladen. Nach einer halben Stunde glaubt sie kaum mehr daran. Nach fünf E-Mails an fünf Freundinnen in Deutschland mit belanglosen Sätzen zum schönen Wetter und der schönen Stadt und der schönen Wohnung steigt der Ärger wieder in ihr hoch. Die machen sich einen lustigen Abend, und sie soll sich in ihre vier Wände verkriechen.
Aber wer zwingt sie denn dazu? Es ist höchstens halb neun, morgen früh hat sie keinen wichtigen Termin, also kann sie ohne Weiteres noch mal rausgehen. In der