Candide. VoltaireЧитать онлайн книгу.
Dreinschauens während derselben. Gleich nach dem Essen legte man den beiden Handschellen an; dann wurden sie getrennt in außerordentlich kühle Gemächer gebracht, wo sie keinen Moment Gefahr liefen, einen Sonnenstich zu erleiden. Nach einer Woche holte man sie endlich heraus; nun bekamen sie die für die Delinquenten vorgeschriebene Schandkleidung: den Sanbenito, einen Spottmantel, der entfernt an eine Benediktinerkutte gemahnte, und die Carocha, eine papierne Hohnmütze in Mitraform. Candides Sanbenito und Carocha waren bemalt mit umgedrehten Flammen und Teufeln ohne Schwänze und Krallen; die Teufel bei Pangloss hingegen hatten Schwänze und Krallen, und die Flammen züngelten aufrecht. So geschmückt schritten sie in einer Prozession einher; dabei hörten sie zuerst eine höchst pathetische Predigt, dann einen schönen, aber eintönig psalmodierenden Trauermarsch. Candide wurde im Takte des Gesanges auf den Rücken gepeitscht; der Biskayer und die beiden Männer, die keinen Speck hatten essen wollen, wurden verbrannt. Pangloss wiederum wurde gehängt, obwohl dies bei Autodafés eigentlich nicht üblich war. Noch am gleichen Tage freilich bebte die Erde erneut unter grausigem Getöse.
Voller Entsetzen und Bestürzung, kaum zu einem klaren Gedanken fähig, über und über blutend und zitternd, sprach Candide zu sich: »Wenn dies hier die beste aller möglichen Welten ist, wie mögen dann erst die anderen sein? Wäre ich nur geprügelt worden – sei’s drum; das kannte ich ja schon von den Bulgaren her. Aber Ihr, mein teurer Pangloss, Größter der Philosophen, musste ich Euch hängen sehen, ohne zu wissen warum? Mein teurer Wiedertäufer, Edelster aller Menschen, musstet ihr unbedingt ertrinken, im Hafen noch dazu? Und Ihr, Fräulein Kunigunde, Perle der Mädchen, war es wirklich nötig, dass Soldaten Euch den Bauch aufschlitzten?«
Was Candide selbst betraf, beließ man es für diesmal beim Auspeitschen und Verwarnen. Zum Schluss erteilte man ihm, der sich kaum noch auf den Beinen hielt, Segen und Absolution. Verwundert drehte Candide sich um, als plötzlich ein altes Weib ihn anstieß und ihm zuflüsterte: »Fasst Mut, mein Sohn, und folgt mir.«
SIEBTES KAPITEL
Wie ein altes Weib sich Candides annimmt und wie er wiederfindet, die er liebt
Mut fassen mochte Candide zwar noch nicht so recht, immerhin aber folgte er der Alten. Sie führte ihn in eine halbverfallene Hütte. Dort gab sie ihm einen Topf Salbe, mit der er sich einreiben sollte, reichte ihm zu essen und zu trinken und wies ihm ein bescheidenes, aber halbwegs reines Bett an, neben dem ein vollständiges Männergewand hing. »Esst, trinkt und schlaft«, sagte die Alte zu ihm. »Die heilige Madonna de Atocha, der heilige Antonius von Padua und der heilige Jacobus von Compostela mögen Euch behüten. Morgen komme ich wieder.« Candide wußte sich kaum zu fassen; schon was er bisher erlebt und erlitten hatte, machte ihn ganz benommen, so unerklärlich erschien es ihm; aber die Barmherzigkeit der Alten erstaunte ihn noch mehr. Dankbar wollte er ihr die Hand küssen. »Nein, meine doch nicht«, wehrte die Alte ab. »Morgen komme ich wieder. Reibt Euch ein, esst und schlaft.«
Trotz allem Ungemach, das ihn bedrückte, aß Candide dann wirklich und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen brachte ihm die Alte ein Frühstück, beschaute seinen Rücken und rieb ihn selbst mit einer anderen Salbe ein. Später brachte sie ihm das Mittagessen; gegen Abend kam sie erneut und brachte das Nachtmahl. Am übernächsten Tag die gleiche Zeremonie. »Wer seid Ihr?«, fragte Candide sie immer wieder. »Woher rührt Eure Freundlichkeit? Wie soll ich Euch jemals danken?« Zu alldem aber schwieg seine Wohltäterin. Abends kam sie wieder, hatte diesmal jedoch kein Nachtmahl dabei. »Kommt mit«, sprach sie zu Candide, »aber seid mucksmäuschenstill.« Sie nahm ihn am Arm, und sie liefen etwa eine Viertelmeile über Land. Endlich erreichten sie ein einsames Haus, rings umgeben von Gärten und Kanälen. Die Alte klopfte an eine kleine Pforte; jemand öffnete, und sie führte Candide über eine Geheimtreppe in ein vergoldetes Gemach, ließ ihn auf einem Brokatsofa Platz nehmen; dann ging sie hinaus und schloss die Tür. Candide vermeinte zu träumen; sein bisheriges Leben erschien ihm wie ein böser Traum, der nun vielleicht einem frohen wich.
Bald kam die Alte zurück. Sie geleitete eine junge Frau herein, deren majestätische Gestalt im Glanze vieler Edelsteine erstrahlte. Freilich zitterte sie am ganzen Leibe, und die Knie wankten ihr; nur mühsam hielt die Alte sie aufrecht. Ein Schleier bedeckte das Antlitz der Dame. »Entfernt den Schleier«, flüsterte die Alte Candide zu. Der junge Mann trat näher und hob den Schleier mit scheuer Hand. Welch ein Augenblick! Welche Überraschung! Er glaubte, Fräulein Kunigunde zu erblicken – nein, er erblickte sie, denn sie war es tatsächlich. Die Kräfte schwanden ihm; er brachte kein Wort hervor; sprachlos fiel er ihr zu Füßen. Kunigunde, auch sie von Schwäche heimgesucht, sank aufs Sofa. Die Alte besprengte beide mit Weingeist; sie kamen zu sich; sie sprachen miteinander; aber erst waren dies nur abgerissene Worte, dann Fragen und Antworten in wildem Wechsel, fast gleichzeitig losgesandt, dazwischen Seufzer, Tränen, Schreie. Die Alte mahnte, nicht so laut zu sein; dann ließ sie die beiden allein. »Ihr seid es also wirklich!«, rief Candide Kunigunde zu. »Ihr lebt! In Portugal finde ich Euch wieder! Ist also nicht wahr, was Meister Pangloss mir versicherte? Ihr seid nicht vergewaltigt worden? Man hat Euch nicht den Bauch aufgeschlitzt?« – »Doch, doch«, seufzte die schöne Kunigunde, »aber weder an dem einen noch an dem anderen stirbt man unbedingt.« – »Aber Euer Vater und Eure Mutter wurden ermordet?« – »Das leider ja«, schluchzte Kunigunde. »Und Euer Bruder?« – »Der auch.« – »Und warum seid Ihr in Portugal? Und woher wusstet Ihr, dass ich hier bin? Und durch welch seltsames Manöver gelang es Euch, mich in dieses Haus zu bringen?« – »All dies werde ich Euch berichten«, entgegnete die Dame, »aber vorher müsst Ihr mir alles mitteilen, was Ihr erlebt habt seit jenem unschuldigen Kusse, den Ihr mir gabt, und den Fußtritten, die Ihr dafür empfingt.«
Candide gehorchte in tiefster Ehrerbietung. Obwohl sein Geist noch ganz verwirrt war und seine Stimme schwach und zittrig, und obwohl der Rücken ihn stark schmerzte, erzählte er in denkbar schlichter und treuherziger Manier alles, was er seit ihrer Trennung hatte erdulden müssen. Zwischendurch hob Kunigunde immer wieder die Augen zum Himmel und vergoss auch Tränen, etwa, als sie vom Tode des braven Wiedertäufers und des Doktor Pangloss hörte. Dann war Kunigunde an der Reihe. Candide sog jedes ihrer Worte begierig ein und verschlang sie dabei geradezu mit seinen Blicken.
ACHTES KAPITEL
Kunigunde erzählt, was ihr inzwischen widerfuhr
Ich lag in meinem Bett und schlief ganz fest, als es dem Himmel gefiel, die Bulgaren in unser schönes Schloss Thundertentronckh zu senden. Sie erschlugen meinen Vater und meinen Bruder und hauten meine Mutter in Stücke. Als ich sah, was geschehen war, schwanden mir die Sinne. Das wollte einer der Bulgaren offenbar ausnutzen, ein riesiger Kerl, gut seine sechs Fuß hoch. Er begann mich zu vergewaltigen; das brachte mich wieder zu mir. Kaum war ich einigermaßen wach, setzte ich mich zur Wehr: ich schrie, ich schlug um mich, ich biss, ich kratzte, ja, ich hätte ihm am liebsten die Augen ausgekrallt, diesem Riesenvieh von Bulgaren. Ich wusste ja nicht, dass, was da so im Schlosse meines Vaters vorging, dem allgemeinen Kriegsbrauch entspricht. Der Unhold gab mir dann einen Messerstich in die linke Seite, von dem ich noch die Narbe trage.« – »Oh, die möchte ich sehen!«, rief Candide in der ihm eigenen Herzensunschuld. »Das sollt Ihr«, antwortete Kunigunde, »aber lasst mich erst weitererzählen.« – »Ja bitte, erzählt«, sagte Candide.
Und Kunigunde fuhrt fort: »Plötzlich kam ein bulgarischer Hauptmann ins Zimmer und sah mich blutüberströmt daliegen. Er sprach den Hünen an; der aber ließ sich gar nicht stören. Dieser mangelnde Respekt versetzte den Hauptmann so in Wut, dass er den Rohling noch auf meinem Leibe totschlug. Dann ließ er mich verbinden und führte mich als Gefangene in sein Quartier. Ich wusch ihm die wenigen Hemden, die der besaß, und ich kochte für ihn. Er fand mich sehr hübsch, und, ich will es nicht leugnen, mir gefiel er auch; er war gut gebaut und hatte eine schöne weiße, weiche Haut. Woran es ihm freilich gebrach, war Geist, und Philosophie lag ihm gänzlich fern; ihm fehlte eben, das merkte man gleich, eine gründliche Bildung, wie wir sie von Meister Pangloss empfingen. Es dauerte ein Vierteljahr, da hatte er sein ganzes Geld durchgebracht und mich leid; also verkaufte er mich an einen Juden namens Don Isaschar, der zwischen Portugal und Holland Handelsgeschäfte trieb und immer hinter den Frauen