Der Erste Weltkrieg. Daniel Marc SegesserЧитать онлайн книгу.
die rohstoffreichen Nord- und Südrhodesien unter britischer Kontrolle. Auch in Lateinamerika vermochte Großbritannien dank seiner hohen Investitionen in den dortigen Staaten seinen Einfluss zu wahren, dies obwohl die amerikanischen Regierungen im Gefolge der so genannten Monroe-Doktrin des Jahres 1823 den Einfluss europäischer Staaten auf die südlichen Teile des amerikanischen Kontinentes zurückzudrängen suchten. Einzig in Nordamerika musste Großbritannien in seinem Anspruch auf eine Vormachtstellung auf die immer stärker werdenden USA Rücksicht nehmen. Das innerhalb des Empires verbliebene Kanada war nämlich wirtschaftlich und politisch zu einem nicht unwesentlichen Teil von der Entwicklung in den USA abhängig. In Europa hatten die britischen Regierungen während langer Zeit versucht, eine Gleichgewichtspolitik zu verfolgen. Deren Ziel lag primär in der Erhaltung der eigenen Handlungsfähigkeit außerhalb Europas sowie in der Verhinderung möglicher Konkurrenten auf globaler Ebene. Diese Politik war im Verlauf des 19. Jahrhunderts meist erfolgreich, sei es im Krimkrieg gegen Russland oder in den Einigungskriegen der 60-er und 70-er Jahre gegen Frankreich. Erst die deutsche »Weltpolitik« um die Jahrhundertwende wurde schließlich zu einer Herausforderung, welcher die britischen Regierungen nicht mehr durch die bisher betriebene Gleichgewichtspolitik zu begegnen vermochten. Auch wenn schon die Konflikte mit Russland und Frankreich eine außereuropäische Komponente aufgewiesen hatten, so in Afghanistan und China (Russland) oder in Afrika (Frankreich), hatten diese beiden Mächte nie explizit die britische Weltstellung in Frage gestellt. Die Regierungen des Deutschen Reiches, aber auch nationalistische betonten hingegen immer wieder, dass es das Ziel des Reiches sei, sich nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt, einen Platz an der Sonne zu sichern.
Großbritannien gelang es, der deutschen Herausforderung entgegenzutreten. Zwar wurden dem Reich Kolonien sowohl in Afrika als auch dem Pazifik zugestanden, im Wettrüsten auf See investierte Großbritannien allerdings hohe Summen, um die strategische Überlegenheit auf den Weltmeeren zu bewahren und damit auch den Wert der kolonialen Konzessionen so gering wie möglich zu halten. Die Kosten waren entsprechend hoch, was angesichts der Bemühungen der seit 1906 amtierenden liberalen Regierung um die Stärkung des Sozialversicherungssystems im eigenen Land zu großen politischen Diskussionen führte. Zudem musste das Land seine Gleichgewichtspolitik in weiten Teilen aufgeben und zumindest zum Teil auch auf die Ressourcen der sich selbst verwaltenden Teile des Empires, der so genannten Dominions zurückgreifen. Dass Großbritannien im letzten Jahrzehnt vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges nicht mehr in der Lage war, seine Weltmachtstellung vollständig aus eigener Kraft zu sichern, hing damit zusammen, dass es relativ gesehen an wirtschaftlicher Stärke eingebüßt hatte. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Land seine bisher auf seiner Pionierrolle in der industriellen Revolution basierende unangefochtene wirtschaftliche Führungsposition zwar nicht vollständig verloren, im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten war die britische Volkswirtschaft allerdings weniger schnell gewachsen. Die Gründe dafür sind umstritten. Angeführt wird einerseits die Tatsache, dass das Land auf Grund seiner Pionierrolle über die ältesten Industrieanlagen verfügte und die Bereitschaft zu deren Erneuerung während vieler Jahre klein geblieben war, dies zumindest solange wie die damit zu erzielenden Gewinne ausreichend erschienen. Als weitere Gründe genannt werden auch der hohe Kapitalexport als Folge der Investitionsmöglichkeiten in vielen unter britischem Einfluss stehenden Teilen der Welt, der verhältnismäßig geringe politische Einfluss von industriellen Unternehmern, das rückständige Bildungswesen – besonders im Bereich der Berufsbildung – sowie das Festhalten der britischen Regierungen am Prinzip des Freihandels, was dazu führte, dass neu entstehende Branchen nicht von staatlicher Förderung profitieren konnten. Fast noch wichtiger als der Rückgang der wirtschaftlichen Bedeutung Großbritanniens auf globaler Ebene war jedoch die daraus resultierende Debatte unter den Zeitgenossen. Insbesondere während der Jahre der intensiven Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich wurde teilweise panikartig und sensationalistisch übertrieben, was unter Wissenschaftlern wie in der Öffentlichkeit dazu führte, dass das britische Selbstbewusstsein in Teilen der Gesellschaft erschüttert wurde. Zu einer wirklichen politisch-gesellschaftlichen Krise wuchs sich diese Diskussion allerdings nicht aus. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die führenden Schichten der britischen Gesellschaft das politische System immer wieder pragmatisch an die veränderten Umstände anpassten. Letztmals geschah dies vor dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1911, als das bisher uneingeschränkte Vetorecht des House of Lords bei Gesetzesbeschlüssen des Unterhauses aufgehoben wurde.
Von entscheidender Relevanz für die weltweite Bedeutung Großbritanniens war die Existenz seines Empires. Nach dem Wegfall der nordamerikanischen Kolonien am Ende des 18. Jahrhunderts hatte dieses zu großen Teilen aus informell beherrschten Gebieten in verschiedenen Teilen der Welt, einigen Handelsstützpunkten und Siedlungskolonien in Afrika, Asien und dem Pazifik sowie dem Herrschaftsbereich der East India Company in Indien bestanden. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich dieses System grundlegend gewandelt. Aus den Siedlungskolonien waren sich selbst verwaltende Kolonien geworden, für welche der Begriff Dominion üblich wurde. In Indien war das direkt unter britischer Kontrolle stehende Territorium vervielfacht worden. Nach dem so genannten Sepoyaufstand von 1858 war die Verwaltung von der East India Company an die britische Regierung übergegangen. In Afrika war aus vielen bis zu diesem Zeitpunkt informell kontrollierten Teilen des Kontinents ein formelles Kolonialreich geworden. Das Ausmaß der Kontrolle über die einzelnen Gebiete war jedoch unterschiedlich. In den weißen Siedlungskolonien hatte es bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts Selbstständigkeitsbemühungen gegeben, welchen die britische Regierung nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen in den USA am Ende des 18. Jahrhunderts durch die stetig zunehmende Abtretung von Kompetenzen an die jeweiligen Selbstverwaltungsbehörden zu begegnen suchte. Entscheidende Meilensteine waren in diesem Zusammenhang der Australian Colonies Gouvernement Act von 1850, der Colonial Law Validity Act von 1865 oder der British North America Act von 1867, mit welchen den Dominions Rechte zugestanden wurden, die dazu führten, dass die innenpolitische Entwicklung dieser Gebiete faktisch 1914 nicht mehr der britischen Kontrolle unterstand. Auch im Bereich der Außen- und Außenhandels- sowie der Sicherheitspolitik versuchten die Regierungen der Dominions zu Beginn des 20. Jahrhunderts an den so genannten Colonial und Imperial Conferences Einfluss zu nehmen. Angesichts der Herausforderungen in Europa sah sich die britische Regierung auch in diesen Punkten immer wieder zu Konzessionen gezwungen, auch wenn sie sich in wichtigen Bereichen – so Fragen der militärischen Zusammenarbeit mit Frankreich oder völkerrechtlicher Beschränkungen des Seekrieges – nicht auf Diskussionen mit den Vertretern der Dominions einließ. Zu den wichtigsten Konzessionen gehörte dabei sicherlich die Zustimmung zum Aufbau eigener australischer und neuseeländischer Flottenverbände und die Schaffung des Imperial General Staff. In diesem arbeiteten, wenn auch in untergeordneten Positionen, Offiziere aus den Dominions mit.
Auch in Indien gab es Bemühungen für eine stärkere einheimische Partizipation an innen-, aber auch außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen der Regierungen des Raj, wie die britische Herrschaft dort genannt wurde. Die britischen Vizekönige versuchten zwar immer wieder, die eigene Position in traditioneller Weise zu inszenieren – dies primär in der Form eines Imperial Darbar, der an die alte Mogulherrschaft erinnerte – doch gelang es ihnen damit immer weniger, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstandenen indischen Bildungsschichten davon zu überzeugen, dass es richtig sei, auf eine irgendwie geartete politische Partizipation von Indern zu verzichten. Ein erster Schritt zur Einbindung der indischen Bildungsschichten war deren Zulassung zum höheren britisch-indischen Verwaltungsdienst. Die Ausführungsbestimmungen dazu waren aber derart restriktiv, dass es kaum einem Inder gelang, in diese Positionen aufzusteigen. Das Höchstalter für die Eintrittsprüfungen wurde auf 19 Jahre festgesetzt und die Prüfungen allein in Großbritannien abgehalten. Inder hatten daher nur dann eine Chance in den Indian Civil Service aufgenommen zu werden, wenn sie schon in jungen Jahren in Großbritannien Eliteschulen besuchten. Selbst wenn sie an den Prüfungen erfolgreich waren, war dies keine Garantie für eine erfolgreiche Karriere, konnten sie doch schon wegen eines geringfügigen Fehlers entlassen werden, der einem weißen britischen Kollegen nachgesehen worden wäre. Der Indian Civil Service wurde so zu einem Elitenbeamtendienst, in welchem einheimische Inder, die als «natives» bezeichnet wurden, den Korpsgeist nur störten. Da die Angehörigen der neuen indischen Bildungsschicht aber an einer akademischen Ausbildung nach britischem Vorbild festhielten, kam es zu einer Akademikerschwemme.