Menschen, die Geschichte machten. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
erwachte ein starkes Interesse an dem altorientalischen Mythos, der die Einzigartigkeit und für nicht wenige damit auch die normative Autorität der deutlich jüngeren biblischen Überlieferung in Frage zu stellen schien.
EIN NEUENTDECKTES EPOS
George Smith hatte sehr bald erkannt, dass die keilschriftliche Sintfluterzählung ihrerseits in ein großes Epos eingefügt war, das von den Abenteuern und Heldentaten Gilgameschs, des sagenhaften Königs von Uruk, sang. Leidenschaftlich suchten er und andere Forscher nun unter den in London aufbewahrten Tontafeln aus Ninive nach weiteren Tafelfragmenten, die zu diesem umfangreichen Werk gehört haben könnten. Dies war kein leichtes Unterfangen. Denn die Eroberer Ninives hatten, bevor sie den Palast in Brand gesteckt hatten, auch in den königlichen Bibliotheken übel gehaust und die Abertausende von Bruchstücken der mutwillig zerschlagenen Tafeln in einem Umkreis von mehreren hundert Metern über Räume, Säle und Höfe des Palastes verstreut und nur das, was zweieinhalb Jahrtausende später unter meterhohem Schutt noch aufzufinden war, war ins Britische Museum gelangt. Nach langer und geduldiger Arbeit (es müssen immer wieder kleine Tafelscherben als zusammengehörig erkannt und physisch „gejoint“ werden) zeigte sich, dass die große Dichtung um König Gilgamesch stets auf Tontafeln niedergeschrieben worden war, die drei Kolumnen auf der Vorderseite und drei Kolumnen auf der Rückseite aufwiesen, wobei eine jede aus etwa 50 Versen bestand. Die Tafeln des Werkes waren durchnummeriert und schließlich fand sich eine, es war die zwölfte Tafel, auf der vermerkt worden war, dass es sich bei dieser um die letzte Tafel des Werkes handele. Zwölf Tafeln von insgesamt etwa 3600 Versen galt es also aus den vielen kleinen Fragmenten zusammenzuflicken. Diese philologisch physische und ganz grundlegende „Arbeit am Mythos“ ist auch heute, 130 Jahre, nachdem das erste Stück des Textes bekannt wurde, immer noch nicht abgeschlossen. Obgleich in der neuesten, hervorragenden wissenschaftlichen Edition von Andrew R. George weit mehr als hundert Textzeugen zusammengetragen wurden, die keineswegs nur aus der Assurbanipal-Bibliothek in Ninive, sondern auch aus anderen Städten des Zweistromlandes stammen – aus Assur, Kalchu und Chuzirina, aus Babylon und Uruk – fehlt immer noch mehr als ein Drittel des Gesamttextes. Trotz größter Fortschritte der vergangenen Jahre bleibt daher immer noch viel Unklares und wohl auch manches Missverstandene.
Die Geschichte des jungen, unerschrockenen Fürsten, der in großen Abenteuern seine Kräfte mit der ganzen Welt messen will und trotz aller Mühsal doch nur auf die ewig gültige Erkenntnis zurückgeworfen wird, dass das menschliche Leben endlich ist, fasziniert gleichwohl. Denn sie handelt von den ganz grundlegenden und wohl durch alle Zeiten unveränderlichen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten des Menschen. Schon im frühen 20. Jahrhundert, als eine erste umfassendere Übersetzung des damals Bekannten erschien, hatte „Der Gilgamesch“ sich einen sicheren Platz in der Weltliteratur erobert. Rilkes Begeisterung für das – wie er es nannte – „Epos der Todesfurcht“ ist berühmt geworden. Das 20. Jahrhundert hat in der Folge eine kaum noch zu überblickende Zahl von Theaterstücken und Romanen, ja sogar zwei Opern hervorgebracht, die ihren Stoff aus dem altorientalischen Zwölf-Tafel-Epos schöpfen, das derzeit immerhin in 16 moderne Sprachen der Welt übersetzt wurde. Hier und heute beschäftigt uns freilich die durchaus interessante moderne Rezeptionsgeschichte weit weniger als die des Altertums.
In der globalen hellenisierten antiken Welt hatten die Geschichten um König Gilgamesch offenbar einen solchen Nachklang, dass Aelius noch im frühen 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, zu einer Zeit, als die Keilschrift schon seit mehreren Generationen in Vergessenheit geraten war, in seiner Sammlung von Exzerpten und Anekdoten von einem König Gilgamos zu berichten weiß. Noch im hellenistischen Babylon Alexanders und seiner Nachfolger hatten, wie schon Jahrhunderte zuvor im Babylon des Nebukadnezar (6.Jh. v. Chr.), die Schulanfänger in ihren ersten keilschriftlichen Schreibübungen, die sie stolz dem Nabu, dem Gott der Weisheit, an einem eigens dafür vorgesehenen Feiertage weihten, Exzerpte von Texten auf Tontafeln niedergeschrieben, die sie studiert hatten: neben Zeichenlisten, orthographischen Übungen und auswendig niedergeschriebenen Passagen aus Wörterbüchern, neben Modellverträgen, Götterhymnen, Gebeten und Zauberformeln finden sich in diesen Dokumenten auch Zitate aus dem Werk, das den babylonischen Schülern unter dem Namen Sa nagba Tmuru, „Der, der alles sah“, geläufig war. Dieses zwölf Tafeln umfassende Gilgamesch-Epos, so hatten sie es gelernt, hatte der gelehrte Sin-leqe-unnini verfasst, den man in der späten Überlieferung für den ersten Weisen nach der Sintflut, für den klugen Berater des Gilgamesch selbst, also gewissermaßen als seinen Chronisten, betrachtete. Sin-leqe-unnini, der gleich mehreren Gelehrtendynastien aus Uruk, der Heimatstadt des Gilgamesch, als Stammvater galt, dürfte dennoch eher – wie es der Sprachstand seines Zwölf-Tafel- Epos nahe legt – im letzten Drittel des zweiten vorchristlichen Jahrtausends gelebt haben.
Der jungen Keilschriftforschung blieb freilich nicht allzu viel Zeit, über diese Frage nachzusinnen. Die auch hier stets drängende Frage nach dem unverfälschten Ursprung, nach dem Anfänglichen und der vermeintlichen Urgestalt, die die Theologen treibt, das biblische Werk in Überlieferungsschichten zu zerlegen, deren Nahtstellen man (mit einem für den Assyriologen befremdlich-erschreckenden Optimismus) in flüchtig gekitteten Textfugen zu erkennen glaubt, diese Frage beantwortete sich für das Gilgamesch-Epos von ganz alleine. Ausgefeilte und sich widersprechende Theorien über einen Deutero-, Trito- oder Proto-Sin-leqe-unnini erwiesen sich, Gott sei Dank, als unnötig. Denn luftgetrocknete oder gebrannte Tontafeln, die in Mesopotamien seit dem ausgehenden 4. Jahrtausend v. Chr. als Schriftträger Verwendung fanden, widerstehen, wie auch Stein und Gold, dem Zahn der Zeiten selbst in Jahrtausenden ganz unbeschadet, wohingegen organische Stoffe wie Papyrus, Leder und Holz in der Regel sehr rasch vergehen. Daher muss in der Assyriologie über ältere Textformen, über Vorläufer und Anfänge nicht spekuliert werden. Mit etwas Glück wird sich früher oder später ein Textzeuge finden, anhand dessen diese Fragen zu beantworten sind. Es kam also, wie es kommen musste. Kurz nach dem ersten Weltkrieg wurden zwei Tontafeln bekannt, die Teile eines deutlich älteren Gilgamesch-Epos in babylonischer Sprache enthielten und wohl im 18. vorchristlichen Jahrhundert, also gute 500 Jahre vor dem Entstehungsdatum des Zwölf-Tafel-Epos (und nebenbei: Tausend Jahre vor Homer) niedergeschrieben wurden. Wie sich alsbald herausstellte, waren dort in meisterhafter Weise mehrere ihrerseits erheblich ältere unabhängige Gilgamesch-Erzählungen zu einem so harmonischen und schönen Ganzen zusammengefügt, dass es schwer fällt, nicht zu glauben, dass dieses altbabylonische Gilgamesch-Epos auf einen einzigen großen Dichter zurückgeht. Den Namen des Schöpfers dieses vielleicht bedeutendsten sprachlichen Meisterwerks des Alten Orients kennen wir leider nicht. Sin-leqe-unnini, dem das altbabylonische Gilgamesch-Epos vorgelegen haben muss, so zeigte es sich, übernahm mehr oder weniger unverändert lange Passagen des alten Textes in sein umfangreiches Werk. Ob die Meister alttestamentlicher Textkritik wohl in der Lage wären, diese Zeilen in der „Endgestalt“ des Textes zu benennen? Einen Versuch wäre das wohl wert! – Weitere Textzeugen zeigen, dass der altbabylonische Text seinerseits Wandlungen erfahren hat, bevor das Zwölf-Tafel-Epos entstand und kanonisiert wurde. Vor Sin-leqe-unnini haben wohl weitere „Proto-Sin-leqe-unninis“ an der endgültigen Textgestalt des Gilgamesch-Epos gewirkt.
Die ältesten sumerischen Erzählungen um König Gilgamesch blieben uns in Textvertretern erhalten, die Schüler zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. schrieben, zu einer Zeit, als das Sumerische als gesprochene Sprache bereits weitgehend ausgestorben war. Damals erzählte man sie sich wohl schon seit Jahrhunderten. Die Geschichten um Gilgamesch, die ja nicht nur von der Frage um Leben und Tod, sondern auch davon handeln, wie sich ein durch Erfahrung klug gewordener Fürst zu verhalten hat, erfreuten sich in allen Perioden der altorientalischen Geschichte größter Beliebtheit. In der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends wurde das Gilgamesch-Epos nicht nur in Babylonien studiert, sondern auch in Syrien, in Palästina und sogar in Anatolien. In den Ruinen der hethitischen Hauptstadt Hattuscha fand man keineswegs nur Textvertreter in der babylonischen Sprache, sondern auch eine Übersetzung ins Hethitische, die wohl dort am Hofe zum Vortrage gebracht wurde. Es fanden sich sogar Bruchstücke einer hurritischen Fassung des Heldenliedes.
Dank der Unverwüstlichkeit des getrockneten und gebrannten Tons, der noch in Jahrtausenden sein wird, wenn an unsere Schriftkultur außer wenigen Steininschriften nichts mehr erinnert, überschauen wir heute – und dies scheint mir einmalig zu sein – eine mehr als zwei Jahrtausende währende