Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina KaiserЧитать онлайн книгу.
die Grundschule. Mittags ist sie aber wieder hier.«
»Wir geht es der Kleinen eigentlich?«, wollte Linda wissen. »Leidet sie sehr unter dem Tod ihrer Eltern? Das muss doch eine ganz schreckliche Erfahrung für sie sein, die sie noch gar nicht verarbeiten kann.«
»Fast alle Kinder, die in Sophienlust leben, haben ihre Eltern verloren«, erklärte Denise. »Dieses gemeinsame Schicksal hilft Romina sehr. Kim und Heidi, unsere beiden Jüngsten, haben Romina sogar einen Weg gezeigt, wie sich alles leichter ertragen lässt. Natürlich leistet sie noch Trauerarbeit. Das wird auch noch eine ganze Weile so sein. Aber Romina ist nicht tief verzweifelt. Sie lacht sogar gern und viel. Davon werden Sie sich morgen persönlich überzeugen können. Ich freue mich auf Ihren Besuch.«
Als Denise auflegte, betrat Nick das Büro. »Nanu, so früh am Tag führst du schon Telefongespräche und das auch noch mit Rominas Onkel und Tante?«
»Woher weißt du denn, mit wem ich telefoniert habe? Du wirst doch nicht gelauscht haben, mein Sohn. Oder habe ich bei deiner Erziehung doch ein paar Fehler gemacht?«
»Nö, hast du nicht.« Nick grinste vergnügt. »Ich habe eben Frau Rennert getroffen, und die hat gepetzt. Aber jetzt bin ich wirklich neugierig. Was wollten diese Leute denn von dir? Haben sie dir ebenfalls erklärt, dass sie mit Romina nichts zu tun haben wollen? Bei diesen Großeltern würde es mich nicht wundern, wenn Onkel und Tante aus demselben Holz geschnitzt wären.«
Denise lächelte ihren Sohn verständnisvoll an. »In dieser Hinsicht fehlt dir noch etwas Lebenserfahrung. Jeder Mensch ist ein individuelles Wesen. Auch bei Menschen, die eng miteinander verwandt sind, darf man nicht von einer Person auf eine andere schließen. Oft sind Familienmitglieder sich einig. Aber das ist nicht immer der Fall. Man muss sich stets vor Vorurteilen hüten.«
»Ich glaube, das ist ein guter Ratschlag. Menschen sind wirklich oft recht verschieden. Willst du damit sagen, dass Onkel und Tante nicht unbedingt negativ reagiert haben?«
Denise nickte. »Ja, so ist es. Sie möchten ihre Nichte sogar besuchen und haben sogar davon gesprochen, dass sie noch mehr für das kleine Mädchen tun wollen. Was sie damit meinten, weiß ich im Augenblick noch nicht. Aber sie sind zumindest an Romina und deren Wohlergehen interessiert. Ich habe ihnen vorgeschlagen, dass der erste Besuch zwanglos und anonym verlaufen soll. Damit waren beide sofort einverstanden. Morgen werden die Marbachs nach Sophienlust kommen.«
»Morgen schon? Dann scheinen sie es wirklich eilig zu haben. Also, ich bin schon richtig gespannt auf diese beiden Leute. Wenigstens sie scheinen ein bisschen menschlicher zu sein als Rominas Großeltern. Vielleicht bleibt sie dann ja doch nicht für immer in Sophienlust. Onkel und Tante wären möglicherweise gute Ersatzeltern.«
»Möglicherweise«, bestätigte Denise. »Aber darüber sollten wir uns im Moment noch nicht die Köpfe zerbrechen. Du weißt selbst, dass der Entschluss, ein Kind bei sich aufzunehmen, das gesamte Leben verändert. Eine solche Entscheidung will gut überlegt sein. Ob die Marbachs sich überhaupt mit diesem Gedanken beschäftigt haben, weiß ich nicht. Vielleicht wollen sie nur eine lockere Verbindung zu ihrer Nichte halten und ihr ab und zu eine kleine Freude bereiten. Allein das wäre für Romina schon ein großes Glück. Sie wäre dann zwar eins unserer Dauerkinder, hätte aber außerdem noch eine Verbindung zu ihren Verwandten.«
»Schlecht wäre auch das nicht«, gab Nick zu. »Aber warten wir ab. Morgen werden wir erfahren, wie die Marbachs sich die Sache vorstellen. Einen Schaden wird Romina jedenfalls nicht erleiden. Selbst wenn Onkel und Tante keinen Gefallen an ihr finden und sich nach ihrem ersten Besuch nicht mehr melden, wird Romina nicht darunter leiden. Sie weiß ja nicht, dass die beiden ihre Verwandten sind, und knüpft keine Hoffnungen an diesen Besuch.«
»So ist es. Deshalb wollte ich ja auch nicht, dass sie sofort etwas über die verwandtschaftlichen Verhältnisse erfährt.«
Denise betrachtete ihren Sohn und musste unwillkürlich schmunzeln. Sie erkannte genau, dass es hinter seiner Stirn arbeitete. Zwar hatte er soeben selbst bemerkt, dass man bis zum nächsten Tag abwarten musste. Trotzdem machte er sich offensichtlich Gedanken, und das waren Gedanken, die Rominas Zukunft betrafen. Insgeheim hoffte er mit Sicherheit darauf, dass das kleine Mädchen bei Onkel und Tante ein liebevolles Zuhause finden würde. So war Nick eben. Er wünschte jedem Kind die allerbesten Aussichten und das Glück, eine richtige Familie zu finden. Andererseits trauerte er aber insgeheim um jedes Kind, das Sophienlust verließ. Er hätte sie alle zu gern in dieser geschützten Umgebung aufwachsen sehen und sie auf dem Weg zum Erwachsensein begleitet. Trotzdem stellte er seine eigenen Interessen zurück und dachte nur an das Glück der Kinder. Allein schon wegen dieser selbstlosen Eigenschaft war Denise stolz auf ihren Sohn.
*
Als Linda und Daniel sich Sophienlust näherten, konnten sie kaum glauben, an der richtigen Adresse zu sein. Langsam und ein wenig unsicher ließ Daniel seinen Wagen die breite Zufahrt entlangrollen.
»Das kann unmöglich ein Kinderheim sein«, stellte Linda fest. »Sieh dir das an. Dieses wundervolle Herrenhaus sieht beinahe aus wie ein Schloss. Wir müssen uns verfahren haben. Vielleicht ist hier nur die Verwaltung untergebracht, und die Kinder leben ganz woanders.«
»Ich bin genauso beeindruckt wie du«, gestand Daniel. »Aber wir sind hier richtig. Am Zufahrtstor stand ein entsprechendes Schild. Außerdem spielen dort drüben Kinder auf der Wiese. Wenn es sich nur um das Verwaltungsgebäude handeln würde, wären sie nicht hier. Es ist unglaublich, aber das hier ist das Kinderheim Sophienlust.«
Dass Daniel sich nicht getäuscht hatte, bewies ein kleines Mädchen, das angelaufen kam und die beiden Leute aufmerksam anschaute, nachdem diese ausgestiegen waren.
»Guten Tag«, grüßte die Kleine freundlich. »Ich bin Heidi und wohne hier. Wollen Sie zu Tante Isi, weil sie uns ein Kind bringen wollen?«
»Nein, Heidi, ein Kind wollen wir eigentlich nicht bringen«, erwiderte Linda amüsiert. »Wir heißen Linda und Daniel Marbach und sind mit Frau von Schoenecker verabredet. Eine Tante Isi kennen wir leider nicht.«
Heidi kicherte vergnügt. »Wenn Sie Frau von Schoenecker kennen, dann kennen Sie auch Tante Isi. Das ist nämlich dieselbe Frau. Wir nennen sie Tante Isi. Frau von Schoenecker sagt keiner von uns zu ihr. Ich habe gerade gesehen, dass sie in ihr Büro gegangen ist. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie hin. Sie kennen sich hier ja nicht aus und wissen gar nicht, wo das Büro ist.«
»Es wäre sehr freundlich von dir, uns den Weg zu zeigen«, erwiderte Daniel. »Ohne deine Hilfe würden wir uns sicher verlaufen. Wie gut, dass wir dich zufällig getroffen haben.«
Vor Stolz über diese Bemerkung wurde Heidi gleich ein paar Zentimeter größer. Sie reckte sich in die Höhe und setzte ein ernstes Gesicht auf.
»Dann kommen Sie bitte mit. Ich werde Sie zu Tante Isi, ich meine natürlich, zu Frau von Schoenecker führen und Sie anmelden.«
Diesen Satz, der aus dem Mund einer Siebenjährigen recht altklug klang, hatte Heidi schon oft von Frau Rennert gehört und übernahm ihn nun einfach.
Linda konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dieses kleine Mädchen gefiel ihr. Es war einfach köstlich.
Während sie Heidi folgten fragte Linda sich insgeheim, ob wohl alle Kinder, die in Sophienlust wohnten, so unkompliziert und freundlich waren wie Heidi.
Denise erhob sich und kam ihren Gästen freundlich entgegen, als Heidi sie ins Büro führte. Vorher hatte die Siebenjährige höflich angeklopft.
Nachdem Linda und Daniel Platz genommen hatten, blieb das Mädchen an der Tür stehen. Denise wusste genau, wie neugierig ihr kleiner Schützling war und wie groß die Hoffnung, jetzt ein paar Neuigkeiten erfahren zu können.
»Ich danke dir, dass du Frau und Herrn Marbach den Weg gezeigt hast, Heidi«, bemerkte Denise. »Das hast du wirklich gut gemacht. Aber jetzt kannst du ruhig wieder zu den anderen Kindern gehen. Ich werde mich schon um unsere Gäste kümmern.«
Der Schmollmund, den Heidi zog, war nicht zu übersehen. Sie hätte zu gern erfahren, was diese Leute von Tante Isi wollten. Aber