Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina KaiserЧитать онлайн книгу.
fahren und Nick fragen, ob ich dort bleiben darf.«
Kiras Gedanken konnte Ellen nicht erraten. Die Neunjährige dachte daran, dass ihre Mutter sie auch zu sich holen könnte, wenn sie in Sophienlust war. Deshalb hatte sie sich schließlich bei Ellen erkundigt, ob ihre Mutter sie auch in Sophienlust sehen konnte. Wenn das der Fall war, dann würde sie sie auch von dort zu sich in den Himmel holen können. Kira hatte keine Ahnung, wie es im Himmel wohl aussehen würde. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. Aber es hieß doch immer, dass nur gute Menschen in den Himmel kommen könnten, und wenn das nur guten Menschen erlaubt war, dann musste es da auch schön sein. Kira wusste, wie sehr ihre Mutter sie liebte. Wenn sie nun sah, wie traurig ihr Kind war, dann würde sie es ganz bestimmt schon bald nachholen. Dessen war Kira sich sicher, sprach mit Ellen aber nicht weiter über ihre Gedanken.
*
Während der vergangenen Tage hatte Liane immer wieder versucht, sich daran zu erinnern, wer sie war und was ihr passiert war. Aber alle Versuche waren erfolglos geblieben. Da war nur die Adresse, an die sie sich erinnern konnte. In welcher Stadt dieser Amselweg allerdings lag, konnte sie nicht sagen.
Daniel Edlinger hatte herausgefunden, dass es auch in Graz einen Amselweg gab. Zwar war seine Patientin bisher noch nicht als vermisst gemeldet worden, aber vielleicht wohnten dort trotzdem irgendwelche Verwandte, die weiterhelfen konnten. Ohne vorher darüber gesprochen zu haben, machte er sich auf den Weg zum Amselweg Nummer acht.
Das Haus wirkte schon recht alt, war aber gut gepflegt. Im Vorgarten blühten zahlreiche Rosen in unterschiedlichen Farben, und an der Gartenpforte entdeckte Daniel einen aus Holz geschnitzten Dackel. Er ging den gepflasterten Weg entlang zur Haustür und warf einen Namen auf das Klingelschild. Eiberger war dort zu lesen. Vielleicht war das auch der Name seiner Patientin? Beherzt drückte der junge Arzt auf die Klingel. Sofort ertönte das Bellen eines Hundes. Dann waren Schritte zu hören, und wenige Sekunden später wurde die Haustür geöffnet. Der Hund, ein Kurzhaardackel, hörte augenblicklich auf zu bellen, wedelte freundlich und schnupperte interessiert an Daniels Hose.
»Ja bitte, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine schon relativ betagte Frau und blickte Daniel aufmerksam an.
»Mein Name ist Daniel Edlinger«, erklärte der Arzt. »Ich arbeite hier in Graz an einem Krankenhaus. Bei uns ist eine Patientin eingeliefert worden, die vermutlich einen Unfall erlitten hat und sich jetzt an nichts erinnern kann, nicht einmal an ihren Namen. Allerdings spricht sie immer wieder davon, dass sie im Amselweg Nummer acht wohnt. Dabei kann es sich natürlich um eine falsche Erinnerung handeln, aber ich möchte der Sache doch nachgehen. Hat bei Ihnen vielleicht bis vor wenigen Tagen eine junge Frau gewohnt, die jetzt plötzlich verschwunden ist?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Nein, mein Mann und ich wohnen ganz allein hier. Um unsere Tochter kann es sich bei dieser Frau auch nicht handeln. Wir haben nur zwei Söhne und drei Enkelkinder. Die sind aber erst zwischen zwölf und siebzehn Jahre alt.«
»Könnte es sich vielleicht um eine Ihrer Schwiegertöchter handeln?«, fragte Daniel. »Es wäre doch möglich, dass sie sich nicht mehr an ihre eigene Adresse erinnert, wohl aber an Ihre.«
»Nein, das kann nicht sein. Eine meiner Schwiegertöchter hat uns gestern Abend noch besucht und erfreute sich bester Gesundheit. Mit der anderen habe ich vor ungefähr einer Stunde telefoniert. Ich habe keine Ahnung, wieso diese bedauernswerte junge Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat, vom Amselweg Nummer acht spricht. Da kann es sich nur um einen Irrtum handeln. Wir vermissen keine junge Frau. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.«
»Dann entschuldigen Sie bitte die Störung«, erwiderte Daniel und wandte sich ab. Er war enttäuscht. Wie sehr hatte er sich gewünscht, seiner Patientin helfen zu können. Doch sie hatte in diesem Haus ganz sicher nie gewohnt. Warum sie sich an einen Amselweg erinnerte, war ein Rätsel.
Daniel fuhr noch nicht sofort los, als er wieder in seinem Wagen saß. Seine Gedanken wanderten zu der jungen Frau, von der er nichts wusste und deren Namen er nicht einmal kannte. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass er sich auf seltsame Weise zu ihr hingezogen fühlte. Seit seiner Scheidung vor drei Jahren hatte er nie daran gedacht, dass er sich noch einmal in seinem Leben verlieben könnte. Jetzt schien allerdings genau das passiert zu sein. Was für ein Irrsinn, dachte er. Ich habe mich in eine Frau verliebt, die noch nicht einmal weiß, wie sie heißt. Nein, er wusste überhaupt nichts von ihr. Vielleicht war sie seit vielen Jahren verheiratet, hatte Kinder und war für ihn unerreichbar? Wie sehr hatte er gehofft, dass er heute bei dieser Adresse etwas über sie erfahren würde! Nun hatten sich diese Hoffnungen nicht erfüllt, und er stand wieder am Anfang. Aber wieso sprach die junge Frau ständig von einem Amselweg und behauptete, dass sie dort wohnte? Das sagte sie doch nicht einfach nur so zum Spaß. Nun … Vermutlich stimmte die Behauptung. Nur lag dieser Amselweg eben nicht in Graz, sondern in einer ganz anderen Stadt, der Stadt, aus der die junge Frau stammte. Aber wie sollte er in sämtlichen Städten Österreichs nach einem Amselweg zu suchen, in dem eine Frau vermisst wurde? Auch die genaueren Umstände des Unfalls, den seine Patientin mit Sicherheit erlitten hatte, ließen sich bestimmt nicht mehr klären. Kein Mensch konnte sagen, wo sich dieser Unfall ereignet hatte. Auch er musste ja nicht unbedingt in Graz geschehen sein…
Natürlich hatte Daniel längst von dem tragischen Flugzeugabsturz gehört, der sich im fernen Kärnten zugetragen hatte, und er hatte auch einige Berichte darüber in der Zeitung gelesen. Aber es gab nicht den geringsten Grund, seine Patientin damit in Verbindung zu bringen.
In der Hoffnung, dass sich die Identität der jungen Frau möglichst bald klären würde, startete Daniel den Motor und fuhr davon.
*
Zusammen mit Kira war Ellen nach Sophienlust gefahren. Die Neunjährige war damit einverstanden, dort zu bleiben, falls ein Platz für sie frei sein sollte. Begeistert war sie von dieser Idee allerdings nicht. Ellen hatte den Eindruck, dass es überhaupt nichts mehr gab, was das Kind erfreuen konnte. Es wirkte geradezu apathisch. Kira litt auf ihre ganz persönliche Art und Weise unter dem Tod ihrer Mutter. Sie beteiligte sich zwar an Gesprächen, tat das jedoch ohne jede Emotion. Alles nahm sie gleichmütig hin. Von ihrer Fröhlichkeit, ihrer Neugier auf alles Neue und ihrer stets guten Laune war nichts geblieben. Ellen machte sich ernsthafte Sorgen um das Mädchen und teilte das auch Denise und Nick mit, als sie den beiden gegenübersaß und ihnen die traurige Nachricht vom Tod ihrer Freundin mitteilte.
»Ich kann es noch immer nicht fassen«, gestand sie. »Für Kira bedeutet Lianes Tod natürlich eine noch bedeutend größere Katastrophe. Am liebsten würde ich sie bei mir behalten und ihr die Mutter ersetzen. Aber das lässt mein Beruf nicht zu. Für eine Weile kann ich Kira natürlich bei mir aufnehmen, aber nicht für immer. Manchmal muss ich beruflich sogar für mehrere Tage verreisen und habe niemanden, der in dieser Zeit für das Mädchen sorgen könnte. Deshalb hatte ich an Sophienlust gedacht und auch schon mit Kira darüber gesprochen, dass sie möglicherweise hier bleiben kann. Ich hoffe sehr, dass ein Platz für sie frei ist.«
Denise und Nick wechselten einen Blick. »Ende des nächsten Monats bekommen wir gleich drei Kinder auf einmal. Es handelt sich um Geschwister, deren Eltern aus beruflichen Gründen für etwa sechs Wochen nach Australien reisen müssen. Ihre Kinder können sie leider nicht mitnehmen, und wir haben bereits zugesagt, die drei aufzunehmen. Diese Zusage können wir nicht mehr rückgängig machen. Es würde etwas eng, wenn wir dann noch ein weiteres Kind im Haus haben.«
»Das verstehe ich natürlich«, erwiderte Ellen, wirkte aber sichtlich enttäuscht. Nick schaute seine Mutter fragend an.
»Hast du, seit es Sophienlust gibt, jemals ein Kind abgewiesen, das sich in einer Notsituation befunden hat?«, fragte er leise.
Denise schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, mein Sohn, das ist noch nie vorgekommen. Manchmal hat es Engpässe gegeben, und es war zuweilen auch ausgesprochen schwierig. Aber es hat sich immer eine Lösung gefunden. Hier ist noch nie ein in Not geratenes Kind abgewiesen worden.«
»Dann soll das auch in Zukunft so bleiben«, entschied Nick und wandte sich an Ellen. »Kira braucht unsere Hilfe und kann bei uns jederzeit einziehen. Wahrscheinlich wird sie noch lange brauchen, um den Tod ihrer