Draußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum. Fritz EckengaЧитать онлайн книгу.
letzten Einheimischen über den Tisch, kaufen sie aus den alten Höfen raus, machen tiptop biologisch-ökologische Luxussanierung und stellen Schilder auf: ›Draußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum.‹«
Gieseking hatte es jetzt eilig. Er müsse Schluss machen, das Husky-Taxi sei grad vorgefahren. Er habe gleich ein Blind-Date mit einer Läppin, die Tätowierungen mache. Sie werde ihm ein traditionelles samländisches Motiv stechen, einen Arsch ohne Geweih. »Oh, klingt interessant«, antworteten wir, aber ob ein Blind-Date für so eine Tätowierung nicht etwas unpraktisch sei. »Nein, das ist nichts Ungewöhnliches«, verabschiedete sich Gieseking, »hier am Polarkreis ist eigentlich jede Verabredung ein Blind-Date, die Sonne geht ja praktisch erst März/April wieder richtig auf. Ganz anders als in Nordhessen. Hähä, obwohl es umgekehrt ja viel gerechter wär’. Hähä, naja, egal. Wünsch’ euch viel Spaß da.«
* * *
So kamen wir nach Nordhessen. Gieseking behielt in allem recht. Hier gab es tatsächlich nichts. Nichts als Bäume. Geräuschlose Bäume. Die Kronen getupft wie von Rosamunde Pilchers Aquarellpinseln. Jedes Blatt einzeln. Ganz langsam. Tagelang. Wochen-, monate-, jahrelang. Ein Blatt nach dem anderen. Hellrot, Rostrot, Karminrot, Blutrot – äh, nein – das war kein Blattlaub, das waren die eingetrockneten Überreste eines Jägers, der die Konsequenzen gezogen hatte. In seiner Mundhöhle steckte der Lauf seiner Flinte, in seinem Hut ein Zettel. Aufschrift: »Wer das liest, ist doof. Wie kann man hier nur spazieren gehen, echt ey.« Ganz schön frech, aber wo er recht hatte, hatte er recht. Wir nickten Zustimmung und zogen weiter. Schon nach 30 Minuten Wanderung entfuhr uns ein hilfeschreiähnliches »Ist es nicht ein zauberhafter Oktober?« Doch niemand antwortete. Niemand. Nicht einmal eine Fliege. Nicht einmal der Wind. Was hätten wir jetzt für ein einziges »KLOCK ZCK«, für ein komplett rammdösiges, was hätten wir jetzt für ein Eichhörnchen im ADHS-Endstadium gegeben.
Wir wanderten weiter durch das nordhessische Vakuum. Keine Abwechslung. Immer nur nichts. In unserer Not riefen wir Gieseking an. Die Bedingungen waren gut. Es gab kein Netz. Aber er nahm nicht ab. Wahrscheinlich war der Arsch noch nicht fertig.
* * *
Nach Stunden erreichten wir eine Siedlung. Welch eine Überraschung. Lebten hier tatsächlich Menschen? Wenn ja, müssten es besserverdienende Menschen sein. Die Häuser frisch gestrichen, das Fachwerk gepflegt, die Dächer neu gedeckt. Namensschilder an den Eingängen. Schilder, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen hatten, handgefertigt aus einem Material wie aus einer fernen Zeit: Salzteig. Was war das hier? Ein Manufactum-Musterdorf? Oder ein Filmset der Degeto, der TV-Produktionsfirma, die für das greise ARD-Publikum immer diese Seifen-Streifen dreht, in denen menopausenresistente Trümmerfrauen noch mal ganz von vorne anfangen? In Afrika, in Mallorca, jetzt auch in Nordhessen? Würde gleich Christine Neubauer in Hunter-Carnaby-Gummistiefeln um die Ecke biegen und eine Schicksalsprüfung bestehen? Am Landrover einen Reifen wechseln, der Milchkuh den entzündeten Euter eincremen, in ein selbstgeschmiertes Butterbrot beißen und nicht zunehmen?
Wir warteten und warteten. Doch nichts geschah. Niemand kam. Keine Neubauer, keine Kuh, kein Butterbrot.
Dies wäre jetzt haargenau die passende Stelle für den klassischen Überbrückungssatz: »Und irgendwo bellte ein Hund.« Aber es bellte kein Hund. Es KLOCKTE noch nicht mal ein Eichhörnchen. Etwas anderes passierte. Irgendwo vibrierte ein Handy. In unserem Rucksack. Eine SMS aus Lappland: »Der Arsch ist fertig. Gleich gibt’s Essen. Mett-Igel aus Rentierhack. Wodka bis zum Augenstillstand. Hier ist gut was los. Bei Euch möcht’ ich echt nicht tot überm Zaun hängen. Bei Euch möchte’ ich noch nicht mal der Zaun sein.«
Wir simsten Gieseking einen Salmonellenvirus aufs icePhone und gingen vorsichtig weiter, Schritt für Schritt durch das leblose Geisterdorf. Dann, an einer Wegekreuzung, eine Hinweistafel: »Dorfcafé, gleich rechts um die Ecke.« Konnte das wahr sein? Sollte es hier tatsächlich eine Einkehrmöglichkeit geben?
Jawohl, gleich rechts um die Ecke ein gepflasteter kleiner Hof, darauf Tische, Stühle. Im Fachwerkhaus dahinter eine offene Tür. Das Dorfcafé. Darin ein großer, für 12 Personen eingedeckter Holztisch, an einer Wand eine Leinwand, an den anderen Wänden Regale mit Saftflaschen, fair gehandeltem Kaffee, fair gehandeltem Tee, fair geschleudertem Honig und eine Theke mit frischgebackenem Apfelkuchen. Für wen war der? Erwartete man lebendige Gäste? Außer uns lebte hier nichts. Noch nicht mal ein Wirt oder eine Wirtin. Wir setzten uns an den Tisch und lasen die Aufschrift der Speisekarte:
»Global denken – lokal handeln. Herzlich willkommen zu den Apfelpresstagen in Altenlotheim. Mit kostenlosem Beamervortrag.«
Apfelpresstage in Altenlotheim. Sollte es nicht besser Altentotheim heißen? Wo waren wir nur gelandet? Wir verwünschten und beneideten Gieseking gleichzeitig. Ein Königreich für einen Rentier-Mett-Igel. Ein Himmelreich für eine Handvoll Robbenleber. Jede heidnische Polarkreis-Sauerei in einem samländischen Darkroom würden wir jetzt diesem evangelischen Regionalsaftevent vorziehen. Hier musste man ja jeden Augenblick damit rechnen, dass Antje Vollmer um die Ecke schlappt und Marmelade für den Adventsmarkt der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel kocht.
* * *
Die ersten Teilnehmer erschienen zum kostenlosen Beamervortrag. Immerhin, Antje Vollmer war nicht dabei, aber einige sahen aus wie sehr nahe Verwandte von Fritz Kuhn und Renate Künast, also so, als würden sie regelmäßig an Presstagen teilnehmen. Als Obst.
Bevor man uns in die Gemeinde aufnehmen konnte, ergriffen wir Gegenmaßnahmen. Neinnein, die Apfelpresstage interessierten uns überhaupt nicht. Obstsäfte nähmen wir nur in gebrannter Form zu uns. Wir zündeten uns Fluppen an und quarzten in die Kuchentheke.
Wir seien Immobilienspekulanten und hätten hier ein paar Resteinheimische davon überzeugt, nach Sterbfritz umzusiedeln. Jetzt würden wir uns ein paar Tage freinehmen, um den zauberhaften Herbst zu genießen. Neinnein, nicht hier. In Frankreich, im Département Vendée. Da fänden jetzt, wie immer im Oktober, die traditionellen Entenpresstage statt. Jaja, Entenpresse, ganz recht. Eine formidable Maschine. Darin würden nach Garvorgang und Zerlegen die Entenkarkasse und das Restfleisch ausgepresst, um aus dem abfließenden Saft eine exzellente Sauce zu machen. Der berühmte ostwestfälische Universalgourmet Dr. Gieseking habe uns im vergangenen Herbst dorthin mitgenommen. Er nähme seit Jahrzehnten am Entenpressen teil und gehöre mittlerweile zum inneren Zirkel der »Lukullischen Loge«. Nun hätten auch wir eine Einladung zum feierlichen Höhepunkt des Festes erhalten. Am Reformationstag halte man sozusagen die Entenpresse-Krönungsmesse ab. Sie gipfele in der Zubereitung eines seit Epochen von Generation zu Generation weitervererbten Gerichtes, der »Blutente«. Selbstverständlich verwende man für diese Spezialität ausschließlich regionale Produkte, die berühmten Challans-Enten, streng biologisch ernährt und in Freilandhaltung aufgezogen. Die Blutente werde nicht geschlachtet, sondern erwürgt. Das habe den Vorteil, dass alles Blut in der Ente verbleibt. Nach dem anschließenden kurzen Garen werde das Tier dann zerlegt und Knochen und Fleischreste sofort in der Entenpresse ausgequetscht. Da es praktisch keinen Blutverlust erlitten habe, erhalte man so eine besonders fleischsaftige und blutige Sauce. Das alles sei natürlich nicht ganz billig. Getränke gingen exklusive. Leider kein kostenloser
Beamer-Vortrag, dafür aber sauteurer Champagner satt. Die ganze Sause pro Nase um die 3.000 Ocken. Tja, Qualität koste halt, aber das müssten wir aufgeklärten und bewussten Verbrauchern wie den Anwesenden hier ja nicht erklären.
Von allen Plätzen des Tisches schauten uns die Geschwister Ekel und Abscheu an. Wir drückten unsere Kippen auf dem geölten Vollholzboden aus, warfen ein paar 50-Euro-Scheine auf den Tisch, riefen »Spende« und wünschten allen noch einen schönen Apfelpresstag.
* * *
Die Sonne stand tief über den schweigenden Wäldern Nordhessens. Das Abendrot wies uns den Weg in die Heimat. Westwärts. Als wir unser Zuhause erreichten, leuchtete ein fahler Vollmond über den Dachfirst und warf ein fast künstliches, neonartiges Licht in den Garten. Der Haselnussbaum war komplett skelettiert. Im Mondschein stand er da wie ein Requisit aus Francis Ford Coppolas Apocalypse Now. Fehlte nur noch der Walkürenritt und Robert Duvall: »I love the smell of napalm in