Der Antichrist. Friedrich NietzscheЧитать онлайн книгу.
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Einleitung
Für einige ist Friedrich Nietzsche einer der letzten großen Philosophen, andere halten ihn für den Atheisten schlechthin und betrachten seine Gedanken je nach eigener Gesinnung mit Zustimmung oder Argwohn. Zu Lebzeiten bekam Nietzsche es leider nicht mehr mit, dass man sich mit seinen Werken beschäftigte – die sich von ihm so lang gewünschte große Leserschaft blieb ihm bis zu seinem völligen geistigen Zusammenbruch, den er im Winter 1889 in Turin erlitt, verwehrt. Kurz darauf begann sich jedoch eine Rezeptionswelle auszubreiten, die bis heute die unterschiedlichsten Wertungen und Deutungen hervorbrachte. Von der Hochkultur zur Popkultur – Nietzsche hat sich einen Namen gemacht. In der Wissenschaft wird er rezipiert, in den Feuilletons portraitiert und immer häufiger auf T-Shirts und Plakaten zitiert.
Eines seiner umstrittensten Werke ist das posthum veröffentlichte Manuskript „Der Antichrist“. Nietzsche hatte es bereits im Spätsommer 1888 geschrieben, jedoch konnte er sich aufgrund seiner zunehmend schlechten geistigen und körperlichen Verfassung nicht mehr um eine Publikation kümmern. Nachdem ihn sein Freund, der Kirchenhistoriker Franz Overbeck, von Turin nach Basel geholt hatte, fertigte dieser eine Abschrift des Manuskripts an. Das Original ließ er Nietzsches Schwester zukommen, die es 1894 im Zuge der Gründung des Nietzsche-Archivs veröffentlichte. Wie über viele seiner anderen Werke wird auch beim „Antichrist“ über eine korrekte Edition des Werks gestritten. Zum einen scheint es keine Einigung über den richtigen Titel zu geben und in einigen Ausgaben fehlen Textteile, deren Auslassung mit dem scharfen Stil des Philosophen zusammenhängen.
Unter Rückgriff auf seine früheren Werke, kritisiert Nietzsche in seinem Spätwerk das Christentum – manche meinen, er rechne damit ab: Er geht gegen die christliche Theologie an, aus der sich die deutsche Philosophie fälschlicherweise abhängig gemacht habe. An Kant und dem ihm folgenden Deutschen Idealismus mit seiner Erkenntnisphilosophie lässt er kein gutes Haar. Die Priester hält er für Lügner, die nur nach Macht gieren und einen lebensverneinenden Gottesbegriff verbreiten, der die Menschen unterjoche. Jesus sei völlig missverstanden worden und die politische Zerstörungskraft des Christentums, die mit Paulus seinen Anfang nahm, ziehe sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag. So ist auch die Hoffnung, von seinen Zeitgenossen verstanden zu werden, nicht groß. Erst im Übermorgen wird er seine Leser finden, schreibt Nietzsche im Vorwort der Erstausgabe.
Sicherlich, der „Antichrist“ ist laut, impulsiv und manchmal unbequem, aber Nietzsche war ein guter Beobachter. Und er war am Ende seines Lebens entgegen seiner von Schopenhauer beeinflussten frühen Schaffensphase ein ,lebensbejahender` Mensch. Nietzsche war auch weniger ein Atheist und lehnte Gott und den Glauben grundsätzlich ab, vielmehr war er in ein Suchender, eine Eigenschaft, die uns vielleicht heute noch mit ihm verbindet und den „Antichrist“ zu einer anregenden Lektüre macht.
1.
– Sehen wir uns in’s Gesicht. Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. „Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden“: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – unser Leben, unser Glück… Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? – Der moderne Mensch etwa? – „Ich weiß nicht aus noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß“ – seufzt der moderne Mensch… An dieser Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Kompromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz und largeur des Herzens, die alles „verzeiht“, weil sie alles „begreift“, ist Schirocco für uns. Lieber im Eise leben, als unter modernen Tugenden und andren Südwinden! … Wir waren tapfer genug, wir schonten weder uns noch andere: aber wir wussten lange nicht, wohin mit unsrer Tapferkeit. Wir wurden düster, man hieß uns Fatalisten. Unser Fatum – das war die Fülle, die Spannung, die Stauung der Kräfte. Wir dürsteten nach Blitz und Taten, wir blieben am fernsten vom Glück der Schwächlinge, von der „Ergebung“… Ein Gewitter war in unsrer Luft, die Natur, die wir sind, verfinsterte sich – denn wir hatten keinen Weg. Formel unsres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel…
2.
Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt.
Was ist Glück? – Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, – dass ein Widerstand überwunden wird.
Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend).
Die Schwachen und Missratenen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
Was ist schädlicher, als irgend ein Laster? – Das Mitleiden der Tat mit allen Missratenen und Schwachen – das Christentum…
3.
Nicht was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen ist das Problem, das ich hiermit stelle (– der Mensch ist ein Ende –): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren.
Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; – und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, – der Chrift…
4.
Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. der „Fortschritt“ ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von Heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.
In einem andren Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus, mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.
5.
Man soll das Christentum nicht schmücken und herausputzen: es hat einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann getan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert: – der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der „verworfene Mensch“. Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missratenen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. Das jammervollste Beispiel: die Verderbnis Pascal’s , der an die Verderbnis seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christentum verdorben war!