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Der Antichrist. Friedrich NietzscheЧитать онлайн книгу.

Der Antichrist - Friedrich Nietzsche


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Teufels“, „die Nähe Gottes“); eine imaginäre Teleologie („das Reich Gottes“, „das jüngste Gericht“, „das ewige Leben“). – Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, dass letztere die Wirklichkeit widerspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht, entwertet, verneint. Nachdem erst der Begriff „Natur“ als Gegenbegriff zu „Gott“ erfunden war, musste „natürlich“ das Wort sein für „verwerflich“, – jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Hass gegen das Natürliche (– die Wirklichkeit! –), sie ist der Ausdruck eines tiefen Missbehagens am Wirklichen… Aber damit ist alles erklärt. Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein… Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion: ein solches Übergewicht gibt aber die Formel ab für décadence …

      16.

      Zu dem gleichen Schlusse nötigt eine Kritik des christlichen Gottesbegriffs. – Ein Volk, dass noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, - es projiziert seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern… Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. – Ein solcher Gott muss nützen und schaden können, muss Freund und Feind sein können, – man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen. Die widernatürliche Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigene Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit… Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? – Freilich: wenn ein Volk zu Grunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit entgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen in’s Bewusstsein treten, dann muss sich auch sein Gott verändern. Er wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, rät zum „Frieden der Seele“, zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur „Liebe“ selbst gegen Freund und Feind. Er moralisiert beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für Jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit… Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott… In der Tat, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein –, oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie notwendig gut …

      17.

      Wo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedes Mal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichen Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig zum Gott der physiologisch Zurückgegangenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich „die Guten“ … Man versteht, ohne dass ein Wink noch Not täte, in welchen Augenblicken der Geschichte erst die dualistische Fiktion eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfenen ihren Gott zum „Guten an sich“ herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus; sie nehmen Rache an ihren Herren, dadurch dass sie deren Gott verteufeln. – Der gute Gott, ebenso wie der Teufel: Beide Ausgeburten der décadence. – Wie kann man heute noch der Einfalt christlicher Theologen so viel nachgeben, um mit ihnen zu dekretieren, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom „Gotte Israel’s“, vom Volksgotte, zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten, sei ein Fortschritt? – Aber selbst Renan tut es. Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! Das Gegenteil springt doch in die Augen. Wenn die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, wenn alles Starke, Tapfere, Herrische, Stolze aus dem Gottesbegriffe eliminiert werden, wenn es Schritt für Schritt zum Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für alle Ertrinkenden heruntersinkt, wenn er Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-Gott par excelence wird, und das Prädikat „Heiland“, „Erlöser“ gleichsam übrig bleibt als göttliches Prädikat überhaupt: wovon redet eine solche Verwandlung? eine solche Reduktion des Göttlichen? – Freilich: „das Reich Gottes“ ist damit größer geworden. Ehemals hatte er nur sein Volk, sein „auserwähltes“ Volk. Inzwischen ging er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er saß seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der große Kosmopolit, – bis er „die große Zahl“ und die halbe Erde auf seine Seite bekam. Aber der Gott der „großen Zahl“, der Demokrat unter den Göttern, wurde trotzdem kein stolzer Heidengott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Winkel, der Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesundenen Quartiere der ganzen Welt!… Sein Weltreich ist nach wie vor ein Unterwelt-Reich, ein Hospital, ein souterrain-Reich, ein Ghetto-Reich… Und er selbst, so blass, so schwach, so décadent… Selbst die Blassesten der Blassen wurden noch über ihn Herr, die Herrn Metaphysiker, die Begriffs-Albinos. Diese spannen so lange um ihn herum, bis er, hypnotisiert durch ihre Bewegungen selbst Spinne, selbst Metaphysikus wurde. Nunmehr spann er wieder die Welt aus sich heraus – sub specie Spinozae -, nunmehr transfigurierte er sich in’s immer Dünnere und Blässere, ward „Ideal“, ward „reiner Geist“, ward „absolutum“, ward „Ding an sich“… Verfall eines Gottes: Gott ward „Ding an sich“ …

      18.

      Der christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist – ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des „Diesseits“, für jede Lüge vom „Jenseits“! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! …

      19.

      Dass die starken Rassen des nördlichen Europa den christlichen Gott nicht von sich gestoßen haben, macht ihrer religiösen Begabung wahrlich keine Ehre, um nicht vom Geschmack zu reden. Mit einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der décadence hätten sie fertig werden müssen. Aber es liegt ein Fluch dafür auf ihnen, dass sie nicht mit ihm fertig geworden sind: sie haben die Krankheit, das Alter, den Widerspruch in alle ihre Instinkte aufgenommen, – sie haben seitdem keinen Gott mehr geschaffen! Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus! Dies hybride Verfalls-Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben! – –

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