Die Zukunft erfinden. Nick SrnicekЧитать онлайн книгу.
darüber hinweg, dass eine defensive Haltung den Übergriffen eines expansiven Kapitalismus nichts entgegensetzt. So positionieren sich etwa die Gewerkschaften in ihrem Widerstand gegen den Neoliberalismus mit Slogans wie »Rettet unser Gesundheitssystem« oder »Stoppt die Austeritätspolitik«, doch offenbaren derartige Forderungen lediglich eine im Kern konservative Haltung. Bestenfalls ließe sich so darauf hoffen, dem Raubtierkapitalismus vorübergehend ein wenig Einhalt zu gebieten. In der Auseinandersetzung ginge es nur darum, bereits Erreichtes zu bewahren, wie begrenzt und krisengeschüttelt es auch immer sein mag. Solche Tendenzen lassen sich nicht zuletzt auch in linken Bewegungen in Lateinamerika beobachten, wo erfolgreiche Kampagnen sich häufig gegen Projekte transnationaler Unternehmen – insbesondere im Bergbaubereich – richten.140 Doch in vielen Zirkeln wird Widerstand als solcher verherrlicht, und eine radikale Rhetorik überdeckt den Konservatismus der eingenommenen Positionen. Widerstand, so heißt es, sei die einzige Möglichkeit, konstruktive Projekte hingegen lediglich ein Traum.141 Aber selbst wenn Widerstand unter bestimmten Umständen wichtig sein mag, für die Aufgabe, eine neue Welt zu schaffen, ist er nutzlos.
Andere Bewegungen propagieren den Ausstieg, einen individuell zu vollziehenden Exodus aus existierenden gesellschaftlichen Institutionen. Affinitäten zu einem solchen Ansatz finden sich insbesondere in horizontalistischen Strömungen, denn schließlich gehört die Ablehnung bestehender Institutionen ebenso zu deren Grundlagen wie der Aufbau autonomer Formen von Gemeinschaft. Letztlich jedoch sind Vorstellungen eines Ausstiegs eine Tendenz, die sich durch die jüngste Geschichte aktivistischer Politik in all ihren Facetten zieht.142 Manche Strömungen richten sich explizit gegen komplexe Gesellschaften, das heißt ihr Ziel ist eine Form von Kommunitarismus oder Anarcho-Primitivismus.143 Andere schlagen vor, zu verschwinden und unsichtbar zu werden, um der staatlichen Entdeckung und Repression zu entgehen.144 Im Extremfall wird eine Art linker Survivalismus propagiert: Wir erleben den Zusammenbruch einer Zivilisation, deshalb sollten wir die Sichtbarkeit fliehen, uns in kleinen Kommunen finden und lernen, unsere Ernährung, Pflege und Selbstverteidigung zu organisieren.145 Innerhalb einer survivalistischen Logik weisen solche Positionen, auch wenn sie vielleicht unattraktiv sind, zumindest eine gewisse Konsistenz auf. Sie haben zudem den Vorzug, nicht im Vagen zu bleiben. Wie auch immer, das politische Werben für einen Ausstieg oder Exodus verwechselt allzu leicht die gesellschaftliche Logik einer Absonderung mit der einer Gegnerschaft zum Kapitalismus – oder, um den Anspruch deutlicher zu formulieren, einer gesellschaftlichen Logik, die für die Kapitallogik eine Bedrohung darstellt.146 Der Kapitalismus war und ist mit allen möglichen Verhaltensweisen und autonomen Räumen unterschiedlichster Art vereinbar und wird dies auch in Zukunft sein.
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist etwa die Erfahrung der spanischen Gemeinde Marinaleda. Im Verlauf dreier Jahrzehnte baute die kleine Stadt mit ihren rund 2700 Einwohnern an einer »kommunistische Utopie«, enteignete den Großgrundbesitz, errichtete gemeindeeigene Wohnhäuser und gründete Kooperativen, hielt die Lebenshaltungskosten niedrig und schuf Arbeitsplätze für alle. Die Grenzen einer solchen Politik sind indes auch schnell aufgezeigt: Die Baumaterialen stellt die Provinz zur Verfügung, die Landwirtschaft subventioniert die Europäische Union, Arbeitsplätze bleiben bestehen, weil Rationalisierungsmaßnahmen abgelehnt werden, das Gemeinde-Einkommen generiert der Verkauf von Agrarprodukten auf Märkten außerhalb der Gemeinde, die Geschäfte sind somit abhängig von der kapitalistischen Konkurrenz wie auch den Auswirkungen der globalen Finanzkrise.147 Marinaleda ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr der Ausstieg, die Flucht oder der Exodus aus dem Kapitalismus einem folkpolitischen Horizont verhaftet bleiben; mit einer solchen Perspektive lässt sich bestenfalls darauf hoffen, kleine Enklaven der Autonomie gegen die Attacken des Kapitalismus zu verteidigen. Dagegen behaupten wir, dass sich durchaus mehr erhoffen (und erreichen) lässt, und zudem, angesichts des Fehlens einer breiten und systematischen Gegenposition, auch jene kleinen Inseln des Widerstands vermutlich demnächst verschwunden sein werden.
Jede Politik ist lokal?
Horizontalismus, Lokalismus, Nostalgie, Widerstand und Exodus sind alle, in unterschiedlichem Maß, getragen von folkpolitischen Intuitionen über Politik und politisches Handeln. Um die Transformation des Kapitalismus anzugehen, reichen sie nicht aus. Das soll nicht heißen, sie in Bausch und Bogen zu verwerfen. Von diesen Ansätzen gilt es, wie wir noch zeigen werden, eine Reihe wichtiger Elemente zu bewahren. Folk-Politik ist nicht per se schlecht, sondern lediglich begrenzt, flüchtig, unzureichend. Horizontalistische Ansätze werfen verschiedentlich durchaus zentrale Fragen von Macht, Herrschaft und Hierarchie auf, doch gelingt es ihnen nicht, adäquate Antworten zu entwickeln. Folk-Politik versucht, den mit derart Fragen einhergehenden Schwierigkeiten von vornherein aus dem Weg zu gehen. Doch in einer Welt, in der uns Herrschaft, Macht, Hierarchie und Ausbeutung aufgezwungen werden, muss man sich ihnen stellen.148 Jede Politik ist zudem in einem ganz allgemeinen Sinn lokal. In unserer unmittelbaren Umgebung finden wir die Motivation, die politischen Verhältnisse im Großen zu verändern. Das Lokale lässt sich nicht einfach ignorieren. Für folkpolitische Strömungen heute allerdings bedeutet das Lokale viel mehr: Der Rückzug auf die lokale Ebene verspricht, Komplexität und Abstraktheit vermeiden zu können, das Lokale erscheint als authentisch und natürlich, während auf Breite und Dauer angelegte Interventionen, die jene Ebene gegebenenfalls hinter sich lassen, ausgeschlossen werden. Jede Politik beginnt lokal, doch Folk-Politik bleibt genau dort stehen.
Letzten Endes ist Folk-Politik nicht so sehr wegen bestimmter Taktiken oder Praktiken problematisch, sondern vielmehr wegen des strategischen Entwurfs, in den jene eingebettet sind. Protestkundgebungen, Demos, Besetzungen, Sit-Ins, Blockaden, all das hat seinen Ort, und keine dieser Taktiken ist per se folkpolitisch. Das werden sie erst als Teil einer strategischen Vision, die Veränderungen im Kleinen als das Höchstmaß politischen Erfolgs ansieht und sie losgelöst von ihren spezifischen Bedingungen verabsolutiert. Zielt beispielsweise eine Besetzung darauf ab, exemplarisch zu wirken und einen temporären Raum nichtkapitalistischer sozialer Verhältnisse zu schaffen, so wird sie niemals zu substantiellen Veränderungen führen. Versteht sie sich hingegen als ein Mechanismus, um Netzwerke der Solidarität zu schaffen und diese für weitere Aktionen zu mobilisieren, so kann sie im Rahmen einer weiter gesteckten gegenhegemonialen Strategie nützlich sein. Doch derartige strategische Überlegungen über die Vor- und Nachteile spezifischer Aktionsformen fehlen in großen Teilen der Linken heute. Zahlreiche Proteste, Demonstrationen und Besetzungen finden statt, ohne dass ein strategischer Gedanke verschwendet würde, sie sind nicht mehr als kurz aufblitzende Zeichen eines verstreuten und vereinzelten Widerstands. Zu selten wird darüber nachgedacht, wie diese verschiedenen Aktionen zu verbinden wären und zusammenwirken könnten, um gemeinsam eine bessere Welt zu schaffen. Stattdessen erleben wir Aktionen, die bisweilen durchaus erfolgreich sind, doch selten ein Auge dafür haben, wie dies mittel- oder langfristigen Zielen dienen könnte.149 Im folgenden Kapitel werden wir sehen, dass die Rechte solche strategischen Überlegungen unternahm und eine Situation herbeiführte, in der der Neoliberalismus zum herrschenden Common Sense unserer Zeit werden konnte.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.