Eiserner Wille. Mike TysonЧитать онлайн книгу.
auf sein breites Publikum im Hof, spuckte Stücke des Ohrs aus und knurrte. Jahre später sollte Artie sagen: „Alle saßen lachend da, und ich drehte mich um und spuckte sie damit an. Das ist das Einzige, was ich in meinem Leben bereue. Ich hätte es kauen und hinunterschlucken sollen, um ihnen zu zeigen, wie böse ich wirklich war.“
Artie kam für einen Monat in den Bau und an dem Tag, als er rauskam, fragte er herum, um herauszufinden, wer die Bosse der jeweiligen ethnischen Gruppen im Gefängnis waren. Dann begann er damit, jedem einzelnen von ihnen die Seele aus dem Leib zu prügeln – alles an einem Tag. Acht Jahre später gelang es Cus, Artie aus dem Knast zu holen, und er stellte ihn als José Torres’ Konditionstrainer an. Ich wette, José folgte Artie aufs Wort. Artie machte noch einige Abstecher ins Gefängnis und bekam danach einen Job als Sicherheitschef eines spanischen Nachtclubs. Bei einem Streit mit einem Stammgast kam er durch einen Schuss ins Herz ums Leben. Artie hatte niemals Angst gehabt, „er konnte auf gar keine andere Weise sterben“, sagte Cus.
Cus lernte bei jenem ersten Kampf gegen den großen Mexikaner Arizmendi nicht nur, seine Angst zu besiegen, sondern machte auch eine sehr ungewöhnliche Erfahrung. Während der zweiten Runde dieses Sparrings hatte Cus plötzlich ein „Bild im Kopf“, wie er es nannte. Er sah sich zur Seite ausweichen und Baby einen Aufwärtshaken direkt aufs Kinn zu verpassen. Er war mitten im Kampf völlig losgelöst von seinem Körper. Er wurde immun gegen die Schläge, die Arizmendi ihm verpasste, so als ob sie jemand anderen treffen würden. Es war, als würden seine Gedanken jemand anderen im Ring leiten. Cus erzählte mir von einer weiteren außerkörperlichen Erfahrung, die er gemacht hatte: Er lag in seinem Bett und plötzlich war ihm, als würde er an der Decke schweben und auf sich selbst herabblicken.
Durch diese Erfahrungen wurde Cus klar, das es ein Schlüsselelement für den Erfolg eines Boxers ist, intuitiv und unpersönlich zu handeln und befreit von der Last seiner Emotionen in den Ring zu steigen. Es reichte nicht aus, nur wachsam zu sein wie seine taubstummen Boxer, die nicht von Geräuschen abgelenkt wurden. Wichtiger war es, einen intuitiven Sinn dafür zu entwickeln, was der Gegner tun würde. Wenn du einen Sekundenbruchteil vorher weißt, dass ein Schlag deines Gegners kommen wird, dann kannst du fast beiläufig reagieren. Du fängst an, dich zu bewegen, und der Hieb wird dich verfehlen. Bei Cus ging es immer darum, das zu vermitteln, was du vermitteln möchtest. Du musst immer als das erscheinen, was dein Gegner niemals sein kann. Du musst die Regeln aufstellen. Es ging darum, den Gegner psychologisch fertigzumachen, den Feind zu verwirren.
Immer wenn Cus über all das mit mir sprach, betonte er, dass das, was er mit „intuitiv denken“ meinte, das unbewusste Handeln war. Intuitives Denken ist frei von emotionalen Beeinträchtigungen. Du wirst zu einem Roboter oder einem Computer. Wie es in diesem Werbespot von Nike so schön heißt: Mach es einfach. Oder wie Cus immer sagte: Der Körper kennt Dinge, von denen der Kopf nicht weiß, dass er sie kennt. Du musst es in einem Sekundenbruchteil tun – du hast keine Chance, darüber nachzudenken. Wenn du es dennoch tust, beziehst du Prügel.
Jahre nachdem Cus diese Theorie der Kontrolle von Emotionen und des Erreichens des intuitiven Zustands entwickelt hatte, sprach er eines Tages mit Norman Mailer darüber, in Mailers Haus in Stockbridge. Cus schilderte diese Unterhaltung einem Mailer-Biografen. „Wir unterhielten uns länger und wohl auch intensiver als zuvor über die Gedanken und Emotionen beim Boxen. Ich gab ihm meine Definition eines richtigen Profis: ein Mann, der vollkommen unpersönlich sein kann, der seinen Emotionen nicht erlaubt, sich an dem, was er tut, zu beteiligen, der dazu fähig ist, konstant objektiv zu sein. Ich möchte nicht mit jedem über diese Dinge sprechen, sonst sagen die Leute: ‚Das ist doch nur ein Spinner‘, aber mit einem Menschen wie Norman ist das okay. Und während wir redeten, entschuldigte er sich plötzlich und kam mit einem Buch zurück: Zen in der Kunst des Bogenschießens. Er fragte, ob ich es gelesen hatte, und ich antwortete, dass ich noch nie von Zen gehört hätte. Er sagte: ‚Bist du sicher? Du kennst es vielleicht nicht, aber du praktizierst es.‘ Später, als ich das Buch ein paarmal gelesen hatte, erkannte ich, dass diese Dinge mit meinem Prinzip des Erreichens eines emotionslosen Zustands zusammenhängen. Wir sprachen über Angst, darüber, dass du die Angst beherrschen kannst, wenn du unpersönlich wirst, sie von deinem Geist und deinem Körper abkoppelst. Durch meine Konzentration spürte ich die Schläge nicht, von denen ich getroffen wurde. Ich war da, aber außerhalb meines Körpers: Ich konnte mich selbst dabei beobachten, wie ich Schläge austeilte, so als würde ich jemand anderen beobachten, und es passierte automatisch, intuitiv.“
Als ich zu Cus kam, benutzte er das Zen-Buch bereits als Teil seines Lehrplans. Cus dachte wohl, das Lesen würde mir mit vierzehn zu schwer fallen, deshalb las er mir vor. Das Buch erzählt von einem deutschen Philosophieprofessor, der in den 1920er-Jahren eine Form des japanischen Bogenschießens erlernte. Schon als mir Cus die Einleitung des Buches von Daisetz Suzuki, einem berühmten Zen-Schüler, vorlas, erkannte ich, dass dies nicht nur Lektionen für das Boxen waren, sondern für das Leben überhaupt.
„Eine der bedeutendsten Eigenschaften der Kunst des Bogenschießens – und auch jeglicher anderer Form von Kunst, wie sie in Japan studiert wird und wohl auch in anderen fernöstlichen Ländern – ist, dass sie nicht nur nützlich ist oder dem puren ästhetischen Genuss dient, sondern auch dazu bestimmt ist, das Gehirn zu trainieren, es in Kontakt zu bringen mit der Realität. Das Bogenschießen wird somit nicht ausschließlich genutzt, um das Zielobjekt zu treffen, der Schwertkämpfer benutzt das Schwert nicht nur, um seinen Gegner zu übertreffen, der Tänzer tanzt nicht nur, um bestimmte rhythmische Bewegungen seines Körpers an den Tag zu legen“, schrieb Mr. Suzuki, „das Gehirn muss zuerst dem Unterbewusstsein angepasst werden. Wenn jemand wirklich ein Meister seiner Kunst sein will, ist technisches Wissen nicht genug. Man muss über die Technik hinausgehen, sodass die Kunst zu einer ‚unverkünstelten Kunst‘ wird, die aus dem Unterbewusstsein kommt. Im Fall des Bogenschießens sind Schütze und Treffer keine gegensätzlichen Dinge, sondern eine Realität. Der Bogenschütze hört auf, sich als jemanden zu betrachten, der damit beschäftigt ist, die Zielscheibe zu treffen. Dieser unbewusste Zustand kann nur hergestellt werden, wenn er, komplett leer und losgelöst von seinem Selbst, eins wird mit der Vervollkommnung seiner technischen Fähigkeit … Zen ist das ‚Alltagsbewusstsein‘ … Der Mensch ist ein denkendes Geschöpf, aber seine besten Arbeiten gelingen ihm, wenn er nicht kalkuliert, nicht überlegt. Das ‚Kindlichsein‘ muss durch lange Jahre des Trainings in der Kunst des Selbstlosen wiederhergestellt werden. Wenn das erreicht ist, überlegt der Mensch nicht mehr. Er denkt wie ein Regenschauer, der vom Himmel fällt, er denkt wie die Wellen, die im Ozean wogen, er denkt wie die Sterne, die den nächtlichen Himmel erleuchten; er denkt wie das grüne Laub, das in der sanften Frühlingsbrise dahinweht. Er ist tatsächlich wie der Regenschauer, der Ozean, die Sterne, das Laub. Wenn ein Mensch dieses Stadium der ‚spirituellen‘ Entwicklung erreicht, dann ist er ein Zen-Lebenskünstler. Er braucht weder Leinwand noch Pinsel und Farbe wie der Maler, noch benötigt er Bogen, Pfeil und Zielscheibe wie der Bogenschütze. Er hat seine Gliedmaßen, Körper, Kopf und weitere Körperteile. Seine Hände und Füße sind die Pinsel und das ganze Universum ist die Leinwand, auf der er sein Leben für siebzig, achtzig oder sogar neunzig Jahre darstellt. Dieses Bild wird ‚Geschichte‘ genannt.“
Cus griff auf eine Vielzahl von Methoden zurück, um diese Theorien umzusetzen. Einmal hatte einer seiner Amateurboxer namens Paul Mangiamele einen erfolgreichen Kampf gehabt und wurde daraufhin ein wenig eingebildet. Er schlug seinen Gegner nieder und sah in seine Ecke hinüber, wo Cus am Ring saß. Er blinzelte und formte lautlos mit den Lippen die Worte „Ich hab’s geschafft“. Als der Kampf vorüber war, gab Cus ihm Saures.
„Mach das nie wieder!“, brüllte er, „du sollst nicht in den Ring steigen und so eine Scheiße veranstalten. Konzentrier dich. Wenn du nicht bei der Sache bist, dann wirst du verletzt werden.“ Das war das letzte Mal, dass Paul etwas Derartiges abzog.
Mein Mitbewohner Frankie Mincelli war vor seinen Kämpfen immer wahnsinnig aufgeregt. Deshalb nutzte Cus eines unserer gemeinsamen Abendessen, um ihn zu beruhigen. „Du musst versuchen, dich komplett zu entspannen, um den Überblick zu behalten. Wenn ein Mensch zu sehr nachdenkt und sich zu große Sorgen darüber macht, dass er verprügelt werden könnte“, sagte Cus, „dann wird er tatsächlich verprügelt. Und dann, wenn du Schläge einsteckst, dann must du am gelassensten sein. Ein professioneller