Der Serienmörder von Paris. David KingЧитать онлайн книгу.
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Es überraschte niemanden, dass er schließlich gewählt wurde, allerdings verblüffte die große Zahl an Stimmen, die er bekommen hatte. Es war ein erdrutschartiger Sieg. Marcel Petiot, gerade mal 30, stand vor seiner Amtseinführung als Bürgermeister. Dieser Erfolg wurde dann allerdings noch von seiner Wahl zum Vertreter Yonnes im „Conseil Général“ (Generalrat) übertroffen, einem Amt, das dem Status eines amerikanischen Kongressmannes gleichkommt. Als ihm ein Freund gratulierte, meinte Petiot frei heraus: „Das ist noch gar nichts. Ich werde es weit bringen – sehr weit.“
DEN GANZEN ABEND ÜBER HABE ICH TELEFONANRUFE UND BERICHTE ERHALTEN. MITTLERWEILE IST ES OFFENSICHTLICH, DASS WIR IN EINEM MERKWÜRDIGEN FALL ERMITTELN, DESSEN TRAGWEITE NOCH NICHT ABZUSEHEN IST.
(Amédée Bussière, Polizeipräfekt)
Am Nachmittag des 12. März 1944 schlug der erste Zeitungsartikel über die grausige Entdeckung in der Rue Le Sueur auf den Straßen von Paris wie eine Bombe ein. Der knappe Bericht in der Paris-Midi fasste die wenigen zu der Zeit bekannten Fakten zusammen. Dem Artikel nach waren Angestellte der Gaswerke bei der Suche nach der Quelle eines eigenartigen Geruchs in das Haus eingedrungen und hatten „die verkohlten Überreste zweier Menschen“ in einem Ofen gefunden. Der Bericht enthielt keine näheren Details bis auf die weitere Falschmeldung, dass man verschiedene Landstreicher auf dem Gelände aufgefunden und einer von ihnen das Feuer entzündet habe.
Vor dem Haus Nummer 21 fand ein regelrechter Massenauflauf statt. Der Geruch – beschrieben als ein ekelerregender, süßlicher Gestank, der alles durchdrang – war nun noch schlimmer als in der vorangegangenen Nacht. Ein sich außerhalb des Anwesens aufhaltender Veteran des Ersten Weltkriegs erinnerte sich daran, dass er einige Tage mit fünf Leichen in einem Granattrichter gelegen hatte. „Nach zwei Tagen“, berichtete er Jean-François Dominique, einem jungen Journalisten der Toulouser Zeitung La Républic du Sud-Ouest, „stank es genauso wie hier.“
Ungefähr zwei Dutzend Polizeibeamte, die Gesichter vor Angst kreidebleich, versuchten vergeblich, die Menge aufzulösen. Hinter den Absperrungen führte Massu hochrangige Beamte der Stadt und der Polizei durch das Anwesen und zeigte ihnen, wo er „einen Haufen von Schädeln, Schienbeinen, Oberarmknochen, gebrochenen Oberschenkelknochen und weiteren menschlichen Überresten“ gefunden hatte. Währenddessen widmete sich ein Team von vier Männern der entsetzlichen Aufgabe, die einzelnen Körperteile aus der Löschkalkgrube zu bergen. Da Massus angewiderte Assistenten die nervenzermürbende Arbeit nicht übernehmen konnten, hatte der Kommissar Totengräber vom Friedhof Passy damit beauftragt.
Petiots Nachbarn unterhielten sich ausschließlich mit der Polizei. Einige Anwohner behaupteten, nicht zu wissen, dass die Nummer 21 bewohnt gewesen sei, zumindest nicht von „ehrenwerten Bürgern“. Andere deuteten auf das befremdliche Verhalten des Besitzers hin. Der Concierge eines nahegelegenen Hauses beschrieb Petiot, der sein Grundstück stets mit dem Fahrrad und einem Anhänger verließ oder anfuhr: Jedes Mal habe der Arzt nervös über die Schulter geblickt, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Die Concierge Marie Lombre aus Nummer 22 bekräftigte diese Aussage und fügte hinzu, dass der Mann fast täglich aufgetaucht sei und eine Baskenmütze und Arbeiterkleidung getragen habe. In dem Anhänger hätten sich häufig Möbel, Kunstgegenstände und weitere wertvolle Utensilien befunden. Allerdings konnte man es ihrer Aussage nach manchmal „nicht mit Genauigkeit“ sagen.
Victor Avenelle, ein 53-jähriger Professor der Romanistik, der im sechsten Stock der Rue Le Sueur Nummer 23 lebte, berichtete davon, dass er häufig beunruhigende Schreie und „Hilferufe“ gehört habe. Seit Weihnachten sei das drei oder vier Mal vorgekommen, meist zwischen 23 Uhr und Mitternacht, vielleicht auch gegen 1 Uhr morgens. Die Stimme habe immer weiblich geklungen. Count de Saunis, ein Bewohner des Hauses, konnte wegen der Schreie aus dem Gebäude oder einem merkwürdigen Geräusch, das wie das Schlagen mit einem Hammer anmutete, manchmal nicht schlafen. Andere Anwohner behaupteten, Frauengelächter und ein Geräusch, das an das Knallen von Champagnerkorken erinnerte, gehört zu haben, ja, sogar das Geräusch eines alten Pferdefuhrwerks, das die Straße um 23.30 Uhr passiert und direkt vor dem Haus Nummer 21 gehalten habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei nicht den blassesten Schimmer, wie die Aussagen zu bewerten waren.
Massus Detektive nahmen im gesamten Gebäude Fingerabdrücke und durchsuchten jeden Winkel nach Beweisen für die Verbrechen oder nach Hinweisen auf die Opfer. In einem der kleinen Schuppen auf dem Hof fanden sie eine kleinere zweite Grube mit Löschkalk. Sie war ca. 4,50 bis sechs Meter tief, 1,80 Meter breit und 1,80 bis 2,70 Meter lang. [Wegen der Vermengung des Löschkalks mit dem Untergrund konnten die exakten Maße nicht ermittelt werden, Anm. A. T.] Auch in dieser Grube befanden sich menschliche Knochen. Daneben stand ein Fuhrwerk mit einem fehlenden Rad. Hatten die Nachbarn dieses Vehikel gehört? An verschiedenen Stellen im Hauptgebäude entdeckten die Ermittler Arbeiterkleidung, verdreckt mit Löschkalk. Im Eingang stand ein brauner, mit dunklen Flecken verunreinigter Koffer, der eine Nagelfeile enthielt, einen Wimpernformer, die Hülle eines Regenschirms und elf Paar Frauenschuhe. Die dunklen Flecken rührten mit hoher Wahrscheinlichkeit von Blutstropfen her.
In Dr. Petiots Behandlungszimmer fand man eine in der Tschechoslowakei hergestellte Gasmaske, die der Arzt, wie die Polizei mutmaßte, wegen des Gestanks der verwesenden Leichen aufsetzte, wenn er sie zum Ofen transportierte. Darüber hinaus entdeckten sie eine „Injektionsnadel“ und eine aus Wachs gefertigte kleine Büste einer Frau.
Die Ermittler Petit und Renonciat fanden ein schwarzes Seidenkleid mit einem tief ausgeschnittenen Dekolleté, verziert mit zwei goldenen Schwalben. Es stammte aus dem Hause Silvy-Rosa in der Rue Estelle in Marseille. An dem Stoff ließ sich noch deutlich der Geruch von Parfüm wahrnehmen. Einem anderen Ermittler fiel ein kleiner runder und aus der Mode gekommener Damenhut in die Hände, überzogen mit braunem Samt und geschmückt mit einer Pfauenfeder, hergestellt von Suzanne Talbot in der Pariser Rue Royal 14. In dem Behandlungszimmer lag zudem ein Frauennachthemd, bestickt mit dem Buchstaben „T“, und ein edles graues Männerhemd mit roten Streifen und den roten, kunstvoll aufgenähten Initialen „K. K.“, die jemand versucht hatte abzureißen. Die Beamten fanden noch weitere Kleidungsstücke mit denselben Initialen: ein weißes Hemd mit dunkelblauen Streifen und zwei Unterhosen.
Ein weiterer Fund unterstrich jedoch das wahre Ausmaß der menschlichen Tragödie, die sich hier abgespielt hatte. Versteckt in einem Wandschrank in Petiots Keller lagerten 22 Zahnbürsten, 22 Fläschchen Parfüm, 22 Kämme und Taschenkämme, 16 Lippenstifte, 15 Etuis mit Gesichtspuder und 36 Fläschchen mit Make-up, Mascara und weiteren Schönheitsprodukten. Darüber hinaus lagen dort zehn Skalpelle, neun Fingernagelfeilen, acht Handspiegel, acht Eistaschen, sieben Brillen, sechs Puderquasten, fünf Zigarettenspitzen, fünf Gasmasken, fünf Pinzetten, zwei Regenschirme, ein Spazierstock, ein Taschenmesser, ein Kopfkissenbezug, ein Feuerzeug und ein Damenbadeanzug. Offensichtlich befanden sich viele Frauen unter den Opfern. Der Mörder schien darauf versessen gewesen zu sein, ihre persönlichen Habseligkeiten zu horten. Hatte er die Frauen wie ein Sadist gequält oder sie missbraucht, bevor er sie in Stücke hackte und die Körperteile in der Löschkalkgrube entsorgte? Diese Frage nahm an Bedeutung zu, als die Polizei einen weiteren grausigen Fund in der Rue Le Sueur machte: zwei Gläser mit männlichen Genitalien, konserviert in Formaldehyd.
Am Morgen des 12. März – über den exakten Zeitpunkt wird spekuliert – hielt dann ein schwarzer Citroën vor dem Haus. Darin saßen vier hochrangige deutsche Offiziere. Sie betraten das Gebäude, kehrten aber schnell wieder zum Auto zurück. Am frühen Nachmittag, hier liegt ebenfalls keine genaue Zeitangabe vor, wurde ein Telegramm vom Oberkommando der deutschen Besatzungsmacht in Massus Büro am Quai des Orfèvres abgegeben. In dem Schriftstück stand Folgendes: „Befehl von den deutschen Behörden. Unverzüglich Petiot verhaften. Gefährlicher Wahnsinniger.“
Während Kommissar Massu den Haftbefehl ausstellte, rief ein Polizeibeamter in der Kriminalpolizeibehörde an, der eine Entdeckung in Petiots Heimatregion gemacht hatte. 1926, also ein Jahr, bevor Petiot Georgette geheiratet hatte, war seine Geliebte Louisette Delaveau unter mysteriösen Umständen verschwunden.
Louisette