Der Serienmörder von Paris. David KingЧитать онлайн книгу.
des Falls zur Gestapo zu vermuten. Nicht nur das Gemetzel, das erkennbar im Haus stattgefunden hatte, und die Brutalität am Tatort wiesen auf die Deutschen hin, sondern auch die Tatsache, dass die Geheimpolizei Büros im noblen 16. Arrondissement unterhielt. Gleich um die Ecke, in der Avenue Foch, lagen die Gestapo-Gebäude Nummer 31, 72, 84 und 85. Der deutsche Sicherheitsdienst (SD), der mit der SS in Verbindung stand, nutzte die Häuser Nummer 19–21, 53, 58–60 und 80 zusammen mit der Gestapo. In der Straße befanden sich zudem noch weitere Büros des Militärs, der Gegenspionage und der Partei.
Eine Hakenkreuzfahne wehte vom Gebäude gegenüber von Petiots Besitztum. Die Garage des Hauses Nummer 22 war von Albert Speers Organisation „Todt“ beschlagnahmt worden, einem riesigen Versorgungsunternehmen, das die Bauvorhaben im besetzen Europa überwachte und die Verantwortung für den Materialnachschub trug. In Paris kümmerte sich die Gruppe um Kleinigkeiten wie das Einschmelzen von Bronzestatuen für die Rüstung, aber auch um Großprojekte wie die Bereitstellung von Arbeitskräften für den Atlantikwall, errichtet als Verteidigungsbollwerk gegen die Invasion der Alliierten.
Die französische Polizei hatte keinerlei Möglichkeit, gegen die Gestapo und ihre Aktivitäten einzuschreiten. In einer Verfügung, unterzeichnet von SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral Carl-Albrecht Oberg am 18. April 1943, musste sich René Bousquet, der Generalsekretär der französischen Polizei, verpflichten, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten sowie „jederzeit und effizient für Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Mit dem Schriftstück zwang man die Franzosen, die deutsche Polizeimacht im Kampf gegen die „Angriffe der Kommunisten, Terroristen, Agenten des Feindes, gegen Saboteure und deren Helfershelfer – Juden, Bolschewisten und Angloamerikaner“ – zu unterstützen. Um die französische Polizei noch stärker zu demütigen, waren die Beamten gezwungen, deutschen Amtspersonen bei jedem Treffen, also auch auf der Straße, zu salutieren. Die Anweisung war als die berüchtigte „Grußpflicht“ bekannt.
Dieser Unterordnung musste unbedingt Folge geleistet werden, denn nach Ansicht der Franzosen war sie immer noch jener Alternative vorzuziehen: eine Polizei, aufgestellt einzig und allein von der Besatzungsmacht, im Verbund agierend mit den zahlreichen Militärorganisationen, die mit den Nazis kollaborierten. Solche Konstellationen hätten unweigerlich zu beängstigender Polizeibrutalität geführt und darüber hinaus weniger Möglichkeiten zur Sabotage geboten. Allerdings verabscheuten viele Mitglieder der Résistance das Verhalten der Polizei dennoch als Zeichen einer feigen und opportunistischen Kollaboration zwischen dem Feind und den – ihrer Ansicht nach – Verrätern.
Trotz der Vermutung, dass die menschlichen Überreste in der Rue Le Sueur mit der Gestapo in Verbindung stehen könnten, quälten Massu Zweifel. Erstens: Niemand hatte ihn gewarnt, sich vom Tatort fernzuhalten. Das wäre zwangsläufig vor oder kurz nach der Entdeckung der Leichen geschehen, hätte es eine Verbindung zur Gestapo gegeben. Zweites: Er war beim Tatort keinem Gestapo-Mann begegnet, was mit Sicherheit geschehen wäre, wenn die Gestapo das Gebäude in irgendeiner Art und Weise genutzt hätte. Stunden, nachdem ihn sein Sekretär verständigt hatte, wartete Massu immer noch darauf, dass sich die Deutschen einschalten würden.
Kommissar Massu erreichte sein Büro am Quai des Orfèvres 36 auf der Île de la Cité um ungefähr 9 Uhr am Morgen des 12. März 1944. Von dem Fenster im dritten Stock der Kriminalpolizeibehörde konnte er auf die Rosskastanienbäume des Place Dauphine blicken, auf das Restaurant Le Vert-Galant und die Pont Neuf, die älteste Brücke von Paris, die trotz der zunehmenden Bombardements der Alliierten immer noch stand.
Einige Inspektoren verfassten Berichte, während andere sich um die in den Fluren wartenden Häftlinge kümmerten. Wie sich herausstellte, war niemand von ihnen beim Tatort gewesen. Massu nahm sich die erst wenige Stunden zuvor angelegte Akte Petiot vor und bereitete sich auf eine erneute Besichtigung des Hauses vor. Begleiten sollten ihn einige hochrangige Beamte der Stadt und der Polizei, darunter sein direkter Vorgesetzter, Polizeipräfekt Amédée Bussière, der den Tatort unbedingt sehen wollte, da er sowohl den französischen als auch den obersten deutschen Behörden Bericht erstatten musste. Um 10 Uhr gab das von den Deutschen kontrollierte Radio Paris den grauenhaften Leichenfund im sogenannten „Beinhaus“ an der Rue Le Sueur bekannt. „Petiot ist aus Paris geflohen“, verlas der Moderator und verschwendete dabei keine Zeit darauf, Spekulationen über den Aufenthaltsort des Verdächtigen anzustellen. „Es ist so gut wie sicher, dass er zu den Terrorbanden von Haute Savoie zurückkehrte.“ So bezeichneten die Nazis die Kämpfer der Résistance, die sich in den alpinen, an die Schweiz angrenzenden Regionen versteckten. „Dort wird er seine Aufgabe als medizinischer Leiter wieder aufnehmen.“ Im Rahmen dieser ersten Berichterstattung, aber auch am darauf folgenden Tag, zeichneten die Sender ein Porträt des Mörders als eines abtrünnigen Terroristen, der sich gegen das Dritte Reich auflehnte.
Allerdings hatte Radio Paris keinen guten Ruf und konnte nicht als sichere Quelle für hieb- und stichfeste Informationen gelten.
„Radio Paris lügt, Radio Paris lügt, Radio Paris ist deutsch“, lautete ein bekannter Refrain, gesungen zur Melodie von „La Cucaracha“. War Petiot tatsächlich ein Mitglied der Résistance? Innerhalb der Polizei kursierten schon Gerüchte über eine mögliche Verbindung des Verdächtigen zu geheimen patriotischen Organisationen. Massu erfuhr zudem, dass ein angeblicher Anführer eines Netzwerks der Résistance zum Tatort gekommen war, mit den Beamten gesprochen und nach einem Rundgang durch das Gebäude den Ort mit ihrem Einverständnis wieder verlassen hatte. Die beiden Streifenpolizisten Fillion und Teyssier stritten die Behauptung zwar ab, doch Massu wollte die beiden noch persönlich befragen.
Die Nachricht über die Entdeckung der menschlichen Überreste verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Viele Pariser machten bei ihren Spaziergängen einen Umweg durch die Rue Le Sueur, nur einen kurzen Fußweg vom Triumphbogen, der Avenue des Champs-Élysées und dem waldähnlichen Parkgelände Bois de Boulogne entfernt. So manche Frau hielt dort kurz auf dem Weg zu oder von den Einkäufen an und unterbrach damit die tägliche Routine, sich mit einem Korb in die langen Schlangen vor der Bäckerei, der Molkerei, dem Metzger, dem Gemüsehändler, dem Tabakgeschäft oder sonst wo einzureihen, um rationierte Ware minderer Qualität zu erstehen – falls überhaupt etwas zu bekommen war. Als Madame Legouvé, eine von Petiots Nachbarinnen, mit ihrer Tochter an diesem Morgen spazieren ging, schnappte sie das Gespräch von zwei Männern auf, die sich über den Fund unterhielten. Einer von ihnen berichtete sichtlich angewidert von dem Gestank im Umkreis des Arzthauses und behauptete, dass es „der Tod“ sei, wohingegen der andere antwortete: „Der Tod hat keinen Geruch.“
In Madame Legouvés Appartementhaus entfachte das Ereignis unter den Mietern hitzige Diskussionen. Einer bemerkte, dass der auf dem Bürgersteig wahrnehmbare Gestank nicht mit dem „wirklich schlimmen und schrecklichen Gestank“ im Innenhof zu vergleichen sei. Monsieur Mentier, ein weiterer Nachbar, zuckte nur mit den Schultern und wollte sich nicht in die Spekulationen einmischen. Seiner Ansicht nach entwich der Geruch einem beschädigten Kanalisationsrohr. Ein Concierge hingegen deutete auf eine schreckliche Wahrheit hin: „Wenn ich Ihnen alles erzähle, was ich weiß, dann würden Sie Ihre Meinung schleunigst ändern.“
AUCH DAS WAHRHAFT BÖSE GRÜNDET IN DER UNSCHULD.
(Ernest Hemingway, Paris – ein Fest fürs Leben)
Dr. Marcel André Henri Félix Petiot erweckte den Eindruck eines respektablen Hausarztes mit einer gutgehenden Praxis. Er vergötterte seine Frau Georgette Lablais Petiot, eine attraktive 39-jährige Brünette, die er vor fast 17 Jahren geheiratet hatte. Sie spielten Bridge, besuchten häufig das Theater oder Kino und waren ganz vernarrt in ihren einzigen Sohn Gérard (Gerhardt Georges Claude Félix), den damals nur noch ein Monat von seinem 16. Geburtstag trennte. Diese Informationen machten die Leichenfunde in der Rue Le Sueur nur noch unverständlicher.
Der Arzt war in Auxerre aufgewachsen, einer mittelalterlichen Stadt, rund 150 Kilometer von Paris entfernt. Im Zentrum, zwischen all den Fachwerkhäusern mit Steinfundament und den sich dahinschlängelnden Straßen mit Kopfsteinpflaster, standen die beeindruckende gotische Kathedrale von St. Étienne und das große Benediktinerkloster von Saint-Germain mit seinem