Unbestreitbare Wahrheit. Mike TysonЧитать онлайн книгу.
uns dann nach Hause zurück, steckte uns etwas Geld zu, verpasste meiner Schwester einen Kuss und schüttelte meinem Bruder und mir die Hand – und das war’s. Vielleicht würde ich ihn ein anderes Mal wiedersehen.
Meine erste Wohngegend war Bedford-Stuyvesant in Brooklyn, damals ein anständiges Wohnviertel der Arbeiterklasse. Jeder kannte jeden. Es lief alles recht normal. Aber Ruhe gab es keine. Jeden Freitag und Samstag herrschte im Haus ein Tumult wie in Las Vegas. Meine Mom lud all ihre Freundinnen, von denen viele im horizontalen Gewerbe arbeiteten, zum Kartenspielen ein. Sie schickte dann ihren Freund Eddie los, Schnaps zu besorgen, und sie kippten den Alkohol nur so hinunter. Den Gewinn jedes vierten Spiels musste die Gewinnerin in den Topf werfen, und der gehörte Mom. Dann bereitete meine Mutter Hähnchenflügel zu. Mein Bruder erinnert sich, dass in unserem Haus außer den Nutten auch Gangster, Detektive, ja, die unterschiedlichsten Menschen verkehrten.
Wenn meine Mutter Geld hatte, verprasste sie es. Sie liebte Gesellschaft und lud immer ein paar Freundinnen und auch diverse Männer zu sich ein. Und alle ließen sich volllaufen bis zum Abwinken. Sie selbst rauchte kein Marihuana, aber alle ihre Freunde, die sie mit dem Stoff versorgte, taten es. Sie selbst rauchte lediglich Zigaretten. Die Freundinnen meiner Mutter waren Prostituierte oder zumindest Frauen, die für Geld mit Männern schliefen. Sie lieferten ihre Kids bei uns ab, wenn sie sich mit Männern trafen. Wenn sie ihre Kinder dann bei uns abholten, kam es vor, dass sie Blut auf der Kleidung hatten. Meine Mom half ihnen, sich zu säubern. Als ich eines Tages nach Hause kam, fand ich ein weißes Baby vor. „Was soll denn dieser Scheiß?“, dachte ich. Aber so war mein Leben.
Mein Bruder Rodney war fünf Jahre älter als ich, sodass wir wenig gemeinsam hatten. Er ist ein seltsamer Kerl! Wir sind Schwarze aus dem Ghetto, und er war wie ein Wissenschaftler, hatte jede Menge Teströhrchen und experimentierte ständig herum. Er besaß sogar eine Münzsammlung, nach dem Motto: „Wenn es die Weißen haben, steht es mir auch zu.“
Einmal ging er ins Chemielabor im Pratt Institute, einem College der Umgebung, und holte sich ein paar Chemikalien zum Experimentieren. Als er ein paar Tage später außer Haus war, schlich ich in sein Zimmer und füllte seine Teströhrchen mit Wasser. Das gesamte Fenster zum Hinterhof flog in die Luft. Daraufhin musste er ein Schloss an seiner Tür anbringen lassen.
Ich hatte viel Streit mit ihm, aber es war die typische Geschichte zwischen einem älteren und einem jüngeren Bruder. Doch eines Tages verwundete ich ihn mit einem Rasiermesser. Er hatte mich wegen irgendwas verprügelt und war dann schlafen gegangen. Zusammen mit meiner Schwester Denise sah ich mir im Fernsehen immer eine dieser Arztserien an. Gerade wurde eine Operation gezeigt. „Das könnten wir nachmachen, und Rodney könnte der Patient sein. Ich bin der Arzt und du die Krankenschwester“, erklärte ich meiner Schwester. Also rollten wir seinen linken Ärmel hoch und los ging’s. „Skalpell“, befahl ich, und meine Schwester reichte mir ein Rasiermesser. Ich machte einen kleinen Schnitt, und er fing an zu bluten. „Schwester, wir brauchen Alkohol“, sagte ich. Sie reichte ihn mir, und ich träufelte ihn auf seine Wunde. Er wachte brüllend auf und jagte uns durchs Haus. Ich versteckte mich hinter meiner Mutter. Noch heute hat er Narben von meinen Schnitten.
Aber wir verlebten auch gute Zeiten miteinander. Einmal ging ich mit meinem Bruder die Atlantic Avenue hinunter, und er sagte: „Komm, lass uns zur Donuts-Fabrik gehen.“ Ein paar Tage zuvor hatte er dort ein paar Donuts gestohlen, und ich glaube, er wollte mir zeigen, dass er es erneut tun konnte. Also schlenderten wir dorthin; das Tor stand offen. Er ging hinein und schnappte sich ein paar Donuts-Schachteln, aber plötzlich schloss sich das Tor. Er konnte nicht mehr raus, und die Wachmänner setzten sich in Bewegung. Also gab er mir die Donuts, und ich rannte damit heim. Meine Schwester und ich setzten uns auf die Veranda und stopften die Donuts in uns hinein; unsere Gesichter waren weiß vom Puderzucker. Unsere Mom stand daneben und unterhielt sich mit der Nachbarin.
„Mein Sohn Rodney hat den Test für die Brooklyn Tech mit Bravour bestanden“, prahlte sie. „Er ist der beste Schüler seiner Klasse, wirklich ein Überflieger.“
Just in diesem Moment fuhr ein Polizeiauto vor, mit Rodney auf dem Rücksitz. Die Polizei wollte ihn rauslassen, aber er hörte, wie unsere Mutter von ihrem guten Sohn schwärmte und bat die Polizisten, weiterzufahren. Man brachte ihn direkt nach Spofford, in ein Jugendgefängnis. Meine Schwester und ich verputzten fröhlich sämtliche Donuts.
Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit meiner Schwester Denise. Sie war zwei Jahre älter als ich und in der Nachbarschaft sehr beliebt. War sie dein Freund, dann war sie dein bester Freund. Aber war sie dein Feind, dann war es besser, sich aus dem Staub zu machen. Wir machten Lehmkuchen, schauten uns im Fernsehen Wrestling und Karatefilme an und begleiteten unsere Mutter zum Einkaufen. Es war ein behagliches Leben, aber dann wurde plötzlich von heute auf morgen alles anders. Ich war gerade sieben Jahre alt.
Die Wirtschaft brach ein, meine Mom verlor ihren Job, und wir wurden aus unserer hübschen Wohnung in Bed-Stuy geworfen. Ein paar Männer kreuzten auf und stellten einfach unsere Möbel und den sonstigen Kram auf den Gehsteig. Wir drei Kinder mussten uns auf die Möbel setzen und darauf achten, dass niemand sie wegnahm, während meine Mutter sich auf die Suche nach einer Bleibe für uns begab. Als ich so dasaß, kamen ein paar Nachbarkinder und fragten: „Mike, weshalb stehen eure Möbel hier draußen?“ Wir erklärten ihnen einfach, dass wir umzögen. Daraufhin brachten uns ein paar freundliche Nachbarn etwas zu essen.
Schließlich landeten wir in Brownsville. Was für ein Unterschied zu unserer vorherigen Wohngegend! Hier waren die Menschen viel lauter, viel aggressiver. Es war eine grauenhafte, brutale Umgebung. Meine Mutter war diese Art von aggressiven Schwarzen nicht gewohnt und daher eingeschüchtert, ebenso mein Bruder und meine Schwester. Hier war alles feindselig, es gab überhaupt keine ruhigen Momente. Ständig fuhren Polizeiautos mit ihren Sirenen vorbei, pausenlos waren Krankenwagen unterwegs, um jemanden abzuholen, und immer wieder hörte man Schüsse, oder jemand wurde erstochen oder Fenster zersplitterten. Eines Tages wurden mein Bruder und ich sogar direkt vor unserem Haus ausgeraubt. Wir beobachteten diese Jungs, die einfach wild herumschossen. Es war wie in einem alten Film mit Edward G. Robinson. Wir wollten uns das Ganze ansehen und sagten: „Wow, das ist also das wahre Leben.“
Die gesamte Umgebung war auch eine Brutstätte sexueller Ausschweifung. Alle waren völlig schamlos. Sogar auf der Straße hörte man: „Blas mir einen“ oder „Leck meine Muschi“. Hier herrschte eine völlig andere Lebensweise als in meinem alten Viertel. Eines Tages zerrte mich ein Junge von der Straße, schob mich in ein verlassenes Gebäude und versuchte, sich an mir zu schaffen zu machen. Auf den Straßen fühlte ich mich nie richtig sicher. Ja, wir waren nicht einmal mehr in unserer Wohnung sicher. In Brownsville gab es keine Partys mehr. Meine Mutter schloss wohl ein paar Freundschaften, aber es war nicht mehr so wie in Bed Stuy. Sie fing an zu trinken, trank immer mehr und bekam auch keinen neuen Job mehr. Also stand ich stundenlang mit ihr im Sozialamt an. Es waren endlose Warteschlangen. Als wir nach Stunden endlich vor dem Schalter standen, war es fünf Uhr, und wir lasen: „Geschlossen“. Es war wie in einem Film.
Auch in Brownsville wurden wir rausgeschmissen, und nicht nur einmal. Ab und zu hatten wir eine anständige Wohnung in einer ordentlichen Wohngegend, wenn uns Freunde meiner Mutter oder einer ihrer Liebhaber aufnahmen. Doch im Allgemeinen wurden die Verhältnisse bei jedem Umzug schlechter. Erst waren wir arm, dann sehr arm und schließlich bettelarm. Am Ende lebten wir in Abbruchhäusern, ohne Heizung, Wasser oder Strom. Im Winter schliefen wir alle im selben Bett, um uns gegenseitig zu wärmen. Dort blieben wir, bis irgendein Kerl uns rauswarf. Meine Mutter ging dann los, um eine andere Bleibe für uns zu suchen, was oft bedeutete, dass sie mit jemandem schlief, aus dem sie sich nicht viel machte. So liefen die Dinge damals.
Sie wollte uns das Obdachlosenheim ersparen, also bezogen wir das nächste abbruchreife Haus. Es war traumatisch, aber was konnten wir tun? Was ich von meiner Mutter gelernt habe, hasse ich an mir: Ich schreckte vor nichts zurück, um zu überleben.
Ich erinnere mich noch genau, wie Sozialarbeiter in unsere Wohnung kamen und nach Männern unter dem Bett suchten. Im Sommer bekamen wir kostenloses Frühstück und Essen. Ich erklärte, dass wir zehn Kinder seien, sodass man uns größere Portionen gab. Ich fühlte mich dabei, als wäre ich gerade in den Krieg gezogen und hätte eine Prämie erhalten.