Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles DickensЧитать онлайн книгу.
Farben verriet, dass es vor kurzem durch einen Hieb lädiert worden war.
»Komm rein, willste wohl hörn!«, knurrte dieser reizende Geselle.
Ein struppiger weißer Hund, der an wohl zwanzig verschiedenen Stellen an Kopf und Leib zerkratzt und zerschunden war, kam ins Zimmer geschlichen.
»Warum biste nich gleich gekommen?«, fragte der Mann. »Bist wohl zu stolz geworden, dich mit mir blicken zu lassen, was? Platz!«
Dieser Befehl wurde von einem Tritt begleitet, der das Tier ans andere Ende des Zimmers beförderte. Der Hund schien jedoch daran gewöhnt, denn er rollte sich ganz ruhig in einer Ecke zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war anscheinend damit beschäftigt, das Zimmer zu begutachten, wobei er mit seinen entzündeten Augen etwa zwanzigmal in der Minute blinzelte.
»Was treibst du hier? Die Jungs piesacken, du lüsterner, habgieriger, un-er-sätt-li-cher alter Hehler?«, sagte der Mann und setzte sich gemächlich hin. »Ich frag mich, warum se dich nich umbringen. Ich würd’s an ihrer Stelle tun. Wär ich dein Lehrjunge, hätt ich’s schon längst getan, und … nee, hinterher verkaufen hätt ich dich gar nich können, denn du bist ja zu nix zu gebrauchen, außer um als hässliche Kuriosität in nem Einmachglas voll Spiritus aufbewahrt zu werden, und ich glaub, so große Einmachgläser gibs gar nich.«
»Pst! Seid doch still, Mr. Sikes!«, sagte Fagin zitternd. »Sprecht nicht so laut.«
»Hör bloß auf mit ›Mr. Sikes‹!«, erwiderte der Schurke. »Das bedeutet nie Gutes, wenn du damit kommst. Du weiß doch, wie ich heiße, also heraus damit! Ich werd meinem Namen schon keine Schande machen, wenn’s soweit is.«
»Schon gut, schon gut, also … Bill Sikes«, sagte Fagin mit erbärmlicher Unterwürfigkeit. »Du scheinst schlechte Laune zu haben, Bill.«
»Vielleicht«, entgegnete Sikes. »Man könnte jedoch denken, du wärst selbst ein wenig verstimmt, es sei denn, du meinst das Werfen von Zinnkrügen genauso wenig bös wie deine Ausplaudereien und …«
»Bis du verrückt!«, rief Fagin, packte den Mann am Ärmel und deutete auf die Jungen.
Mr. Sikes begnügte sich damit, unter seinem linken Ohr einen imaginären Knoten zu knüpfen und seinen Kopf mit einem Ruck auf die rechte Schulter fallen zu lassen, eine Pantomime, die Fagin voll und ganz zu verstehen schien. Dann verlangte er in Gaunersprache, mit der seine Rede reichlich gespickt war, jedoch unverständlich bliebe, wollten wir sie hier wiedergeben, ein Glas Schnaps.
»Und misch mir ja kein Gift rein«, sagte Mr. Sikes und legte seinen Hut auf den Tisch.
Das war im Scherz gesagt, doch hätte Sikes den scheelen Seitenblick gesehen, mit dem sich Fagin auf seine bleichen Lippen biss und zum Schrank umdrehte, würde er sich gedacht haben, dass durchaus Vorsicht geboten sein könnte, oder ihm wäre zumindest aufgefallen, dass der Wunsch, die Kunst des Schnapsbrenners noch ein wenig zu verfeinern, dem Herzen des fröhlichen alten Herrn zumindest nicht allzu fern lag.
Nachdem er zwei oder drei Glas Schnaps hinuntergekippt hatte, ließ sich Mr. Sikes dazu herab, von den jungen Herren Notiz zu nehmen. Diese gnädige Tat führte zu einer Unterredung, in deren Verlauf das Wie und Warum von Olivers Festnahme ausführlich und in allen Einzelheiten dargelegt wurden, mit so vielen Abänderungen und Verbesserungen, wie sie dem Dodger unter den gegebenen Umständen ratsam erschienen.
»Ich fürchte«, meinte Fagin, »er könnte etwas sagen, das uns in Schwierigkeiten bringt.«
»Höchstwahrscheinlich«, warf Sikes mit einem hämischen Grinsen ein, »hat er dich verpfiffen, Fagin.«
»Und wisst ihr, ich fürchte«, fuhr der alte Hehler fort, als habe er die Unterbrechung überhaupt nicht bemerkt und sah dabei den anderen scharf an, »ich fürchte, wenn das Spiel für uns aus ist, könnte es auch für viele andere aus sein, und es würde dich wohl schlimmer treffen als mich, mein Freund.«
Der Mann sprang auf und wandte sich wütend gegen den Alten. Aber Fagin hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und starrte mit leerem Blick die gegenüberliegende Wand an.
Es trat ein langes Schweigen ein. Jedes Mitglied dieser ehrenwerten Gesellschaft schien in seine eigenen Gedanken versunken, sogar der Hund, der sich boshaft die Lefzen leckte und darauf aus schien, die Beine des erstbesten Menschen – Dame oder Herr –, dem er draußen auf der Straße begegnen würde, zu attackieren.
»Jemand muss rausfinden, was auf der Polizeiwache geschehen ist«, sagte Mr. Sikes viel leiser, als er seit seiner Ankunft gesprochen hatte.
Fagin nickte zustimmend.
»Wenn er nicht gesungen hat und verurteilt wurde, dann steht nichts zu befürchten, bis er wieder draußen ist«, sagte Mr. Sikes, »und dann muss man sich um ihn kümmern. Du musst ihn irgendwie in die Finger kriegen.«
Wieder nickte Fagin.
Die Klugheit dieser Vorgehensweise lag zwar auf der Hand, aber leider stand ihrer Ausführung ein schwerwiegendes Hindernis im Weg, denn der Dodger, Charley Bates, Fagin und Mr. William Sikes hegten zufällig alle miteinander einen unbändigen und tief verwurzelten Widerwillen dagegen, sich einer Polizeiwache zu nähern, aus welchem Grund oder unter welchem Vorwand auch immer.
Schwer zu sagen, wie lange sie wohl noch in diesem alles andere als angenehmen Zustand der Ungewissheit verharrt und einander angeschaut hätten. Doch ist es auch gar nicht notwendig, irgendwelche Vermutungen zu diesem Thema anzustellen, denn das plötzliche Eintreten der beiden jungen Damen, die Oliver bei früherer Gelegenheit kennengelernt hatte, brachte die Unterredung wieder neu in Gang.
»Das ist es!«, rief Fagin. »Bet wird gehen, nicht wahr, meine Liebe?«
»Wohin?«, erkundigte sich die junge Dame.
»Nur kurz auf die Wache, mein Schatz«, antwortete Fagin einschmeichelnd.
Man muss der jungen Dame lassen, dass sie nicht rundheraus erklärte, sie werde nichts dergleichen tun, sondern bloß klar und deutlich dem Wunsch Ausdruck gab, der Teufel solle sie holen, wenn sie es täte, der vorgetragenen Bitte also höflich und zartfühlend auswich, was zeigt, dass die junge Dame von Haus aus über eine gute Kinderstube verfügte, die es ihr nicht gestattete, Mitmenschen durch eine direkte und unverblümte Weigerung vor den Kopf zu stoßen.
Fagin machte ein langes Gesicht und wandte sich von dieser jungen Dame, die mit einem roten Kleid, grünen Stiefeln und gelben Haarschleifchen hübsch, um nicht zu sagen prächtig herausgeputzt war, an die andere Frau.
»Nancy, meine Beste«, sagte der alte Hehler in sanftem Ton, »wie steht es mit dir?«
»Da wird nichts draus, brauchst es gar nicht erst zu versuchen, Fagin«, erwiderte Nancy.
»Was soll das heißen?«, fragte Mr. Sikes und schaute verdrossen auf.
»Was ich gesagt habe, Bill«, antwortete die Dame mit ruhiger Stimme.
»Na, du wärst aber genau die Richtige dafür«, überlegte Mr. Sikes, »hier in der Gegend kennt dich keiner.«
»Und das soll auch so bleiben«, entgegnete Nancy ebenso gelassen wie zuvor, »es spricht mehr dagegen als dafür, Bill.«
»Sie wird gehen, Fagin«, sagte Sikes.
»Nein, wird sie nicht, Fagin«, sagte Nancy.
»Doch, sie wird«, sagte Sikes.
Und Mr. Sikes behielt recht. Durch Drohungen, die sich mit Versprechen und Bestechungen abwechselten, wurde die fragliche Dame schließlich dazu bewegt, diese Aufgabe zu übernehmen. Ihr standen natürlich auch nicht dieselben Bedenken im Wege wie ihrer liebenswürdigen Freundin, denn da sie erst kürzlich aus dem abgelegenen, aber vornehmen Vorort Ratcliffe in die Gegend von Field Lane gezogen war, lief sie nicht wie diese Gefahr, von einer ihrer zahlreichen Bekanntschaften entdeckt zu werden.
Also band sich Miss Nancy eine saubere weiße Schürze über ihr Kleid und verbarg die Haarschleifchen unter einer Strohhaube – beide Kleidungsstücke stammten aus den unerschöpflichen