Ein Zimmer für sich allein. Virginia WoolfЧитать онлайн книгу.
Virginia Woolf
Ein Zimmer für sich allein
Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Axel Monte
Reclam
Englischer Originaltitel: A Room of One’s Own
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: © akg-images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961856-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020640-9
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Aber, mögen Sie vielleicht sagen, wir haben Sie doch gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen1* – was hat das denn mit einem Zimmer für sich allein zu tun? Ich will versuchen, es zu erklären. Als Sie mich baten, über Frauen und Literatur zu sprechen, setzte ich mich am Ufer eines Flusses nieder und begann darüber nachzudenken, was diese Worte wohl bedeuten. Sie könnten einfach ein paar Bemerkungen über Fanny Burney bedeuten, ein paar weitere über Jane Austen, eine Würdigung der Brontës und eine kurze Beschreibung des verschneiten Pfarrhauses in Haworth, womöglich irgendetwas Geistreiches über Miss Mitford, ein respektvoller Verweis auf George Eliot, eine Erwähnung Mrs. Gaskells und fertig.2 Doch auf den zweiten Blick schien die Sache nicht ganz so einfach. Die Überschrift Frauen und Literatur könnte bedeuten, und so haben Sie es vielleicht gemeint: Frauen und wie sie sind; oder sie könnte bedeuten: Frauen und die Literatur, die sie schreiben; oder sie könnte bedeuten: Frauen und die Literatur, die über sie geschrieben wurde; oder sie könnte bedeuten, dass alles drei irgendwie untrennbar miteinander vermengt ist und Sie möchten, dass ich es in diesem Licht betrachte. Aber als ich anfing, das Thema in diesem letzten Sinne zu betrachten, der am interessantesten schien, sah ich bald, dass die Sache einen entscheidenden Haken hatte. Ich würde niemals in der Lage sein, zu einer Schlussfolgerung zu gelangen. Ich würde niemals in der Lage sein, zu erfüllen, was nach meinem Verständnis die erste Pflicht einer Vortragenden ist: Ihnen nach einer Stunde der Ausführungen ein goldenes Körnchen reiner Wahrheit auszuhändigen, damit Sie es zwischen die Seiten Ihrer Notizbücher stecken und für immer auf dem Kaminsims aufbewahren. Ich könnte Ihnen lediglich eine Meinung über einen nebensächlichen Punkt anbieten: Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte, und das lässt, wie Sie sehen werden, das große Problem der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur ungelöst. Ich habe mich vor der Pflicht gedrückt, in diesen beiden Fragen zu einem Schluss zu kommen – Frauen und Literatur bleiben, was mich betrifft, ungelöste Probleme. Doch um Sie ein wenig zu entschädigen, werde ich Ihnen, so gut ich kann, darlegen, wie ich zu dieser Meinung über das Zimmer und das Geld gekommen bin. Ich werde in Ihrer Anwesenheit so ausführlich und frei, wie es mir möglich ist, den Gedankengang nachvollziehen, der mich zu dieser Ansicht geführt hat. Wenn ich die Ideen offenlege, die Vorurteile, die hinter dieser Behauptung stehen, werden Sie vielleicht feststellen, dass sie einige Auswirkungen auf Frauen und einige auf die Literatur haben. Wenn ein Thema jedoch höchst umstritten ist – und das ist jede Frage, bei der es um die Geschlechter geht –, kann man nicht hoffen, die Wahrheit zu sagen. Man kann lediglich zeigen, wie man zu seiner Meinung gekommen ist, welche es auch immer sein mag. Man kann seiner Zuhörerschaft nur die Möglichkeit geben, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn sie die Grenzen, die Vorurteile und Eigenarten der Vortragenden bemerken. Literatur vermittelt in dieser Hinsicht wahrscheinlich mehr Wahrheit als die bloßen Tatsachen. Daher schlage ich vor, dass ich mir alle Freiheiten und Vorrechte einer Schriftstellerin nehme, um Ihnen die Geschichte der beiden Tage, die meinem Eintreffen hier vorangegangen sind, zu erzählen – wie ich, gebeugt von dem Gewicht des Themas, das Sie meinen Schultern aufgebürdet haben, darüber nachgedacht und es in meinem Alltag ein- und ausgearbeitet habe. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass die Dinge, die ich nun beschreiben werde, nicht existieren: Oxbridge ist eine Erfindung, Fernham ebenso,3 und »ich« ist nur eine bequeme Bezeichnung für jemanden, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Lügen werden mir über die Lippen kommen, aber vielleicht mischt sich auch die eine oder andere Wahrheit darunter; es ist an Ihnen, diese Wahrheit ausfindig zu machen und zu entscheiden, ob es sich lohnt, irgendein Stück davon aufzubewahren. Falls nicht, werfen Sie das Ganze einfach in den Papierkorb und vergessen es.
Da war ich also (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael4 oder wie immer es Ihnen gefällt – das ist völlig unwichtig) und saß vor ein oder zwei Wochen bei schönem Oktoberwetter gedankenverloren am Ufer eines Flusses. Jenes Joch, von dem ich gesprochen habe, Frauen und Literatur, die Notwendigkeit, bei einem Thema, das alle möglichen Vorurteile und Leidenschaften weckt, zu einer Schlussfolgerung zu kommen, drückte meinen Kopf zu Boden. Zur Rechten und zur Linken leuchtete irgendeine Art von Büschen golden und purpurfarben, ja, ihre Farben schienen vor feuriger Hitze gar zu brennen. Am anderen Ufer weinten die Weiden, das Haar um ihre Schultern, in fortwährender Klage. Der Fluss spiegelte, was immer er von Himmel und Brücke und brennendem Baum auswählte, und nachdem der Student sein Boot durch die Spiegelungen gerudert hatte, schlossen sie sich wieder, so vollständig, als habe es ihn nie gegeben. Man hätte dort den ganzen Tag lang in Gedanken versunken sitzen können. Die Gedanken – um sie mit einem stolzeren Namen zu belegen, als sie verdienten – hatten ihre Angelschnur in den Fluss ausgeworfen. Dort tanzte sie, Minute um Minute, hin und her, zwischen den Spiegelungen und den Pflanzen, ließ sich vom Wasser heben und senken, bis – Sie kennen den kleinen Ruck – die jähe Verdichtung einer Idee am Ende Ihrer Angelschnur, dann das behutsame Einholen und das vorsichtige Ausbreiten des Fangs? Aber ach, wie klein und unscheinbar sah dieser mein Gedanke aus, als er dort im Gras lag, die Sorte Fisch, die ein guter Angler ins Wasser zurückwirft, damit er fetter und es sich eines Tages lohnen wird, ihn zuzubereiten und zu essen. Ich will Sie jetzt nicht mit diesem Gedanken behelligen, doch wenn Sie aufmerksam hinschauen, können Sie ihn wohl im Verlaufe dessen, was ich nun sagen werde, selbst ausfindig machen.
Aber so klein er auch war, besaß er dennoch die geheimnisvolle Eigenschaft seiner Art: In den Kopf zurückgesteckt wurde er umgehend sehr aufregend und wichtig, und wie er so dahinschoss und abtauchte und hier und dort wieder aufblitzte, verursachte er einen solchen Schwall und Aufruhr an Ideen, dass es unmöglich war stillzusitzen. So merkte ich auf einmal, wie ich in hohem Tempo über ein Rasenstück lief. Im Nu erschien die Gestalt eines Mannes, um mich abzufangen. Doch begriff ich zuerst nicht, dass das Gestikulieren des seltsam aussehenden Individuums in Gehrock und Frackhemd mir galt. Seine Miene drückte Entsetzen und Empörung aus. Da kam mir eher der Instinkt als der Verstand zu Hilfe: Er war ein Pedell, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Hier sind nur Fellows5 und Gelehrte zugelassen, mein Platz ist auf dem Kiesweg. Diese Gedanken waren das Werk eines Augenblicks. Als ich mich wieder auf dem Weg befand, sanken die Arme des Pedells herab, nahm seine Miene die übliche Gelassenheit an, und obwohl es sich auf Rasen besser geht als auf Kies, war kein großer Schaden angerichtet worden. Das einzige, was ich gegen die Fellows und Gelehrten, welchem College sie auch angehören mochten, vorbringen konnte, war, dass sie meinen kleinen Fisch verscheucht hatten, um ihren Rasen zu schonen, der seit dreihundert Jahren ununterbrochen gewalzt wurde.
Ich konnte mich jetzt nicht mehr erinnern, welche Idee es gewesen war, die mich zu diesem kühnen unbefugten Betreten angestiftet hatte. Der Geist des Friedens senkte sich wie eine Wolke vom Himmel herab, denn wenn der Geist des Friedens irgendwo weilt, dann in den Innenhöfen und Gevierten von Oxbridge an einem schönen Oktobermorgen. Beim Umherstreifen durch die Colleges, vorbei an den altehrwürdigen Hallen, schien die Rauhheit der Gegenwart hinfortgeglättet, der Leib schien sich in einem wundersamen Glasgehäuse zu befinden, in das kein Laut vorzudringen vermochte, und der Geist, entbunden von jeglicher Berührung mit den Tatsachen (es sei denn, man beträte wieder unbefugt den Rasen), besaß die Freiheit, sich jeglicher Betrachtung anheimzugeben, die im Einklang mit dem Augenblick stand. Wie es der