Эротические рассказы

1984. George OrwellЧитать онлайн книгу.

1984 - George Orwell


Скачать книгу
geopfert, die privat und unabänderlich war. So etwas, das sah er nun, konnte heute nicht mehr passieren. Heute gab es Furcht, Hass und Schmerz, aber keine Erhabenheit der Gefühle mehr, keinen tief empfundenen Kummer. All dies glaubte er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester wahrzunehmen, die durch das grünliche Wasser zu ihm hinaufblickten, Hunderte Faden unter ihm und immer noch sinkend.

      Plötzlich stand er auf kurzem, federndem Rasen, an einem Sommerabend, während die schräg einfallenden Strahlen der Sonne den Boden vergoldeten. Die Landschaft, die er um sich herum wahrnahm, tauchte immer wieder in seinen Träumen auf, so dass er sich nie richtig sicher war, ob er sie in der wirklichen Welt gesehen hatte oder nicht. In der wachen Welt seiner Vorstellungen nannte er diese Landschaft das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen bewohnte Wiese, mit einem quer verlaufenden Fußpfad und hier und da einem Maulwurfshügel. In der ungepflegten Hecke auf der gegenüberliegenden Seite der Weide bewegten sich die Zweige der Ulmen sanft in der leichten Brise, und ihre Blätter wogten wie die dichte Fülle von Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, aber nicht in Sichtweite, plätscherte ein klarer, träge fließender Bachlauf, wo sich Hasel in den Buchten unter den Weiden tummelten.

      Die junge Frau mit dem dunklen Haar kam quer über die Wiese auf ihn zu. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung riss sie sich die Kleider vom Leib und warf sie verächtlich beiseite. Ihr Körper war weiß und glatt, weckte aber kein Verlangen in ihm, ja er schaute nicht einmal richtig hin. Was ihn in diesem Moment übermannte, war Bewunderung für die Geste, mit der sie ihre Kleider von sich geworfen hatte. Mit dieser Anmut und Unbekümmertheit schien sie eine ganze Kultur abzuschütteln, ein ganzes Gedankengebäude, als könnten der Große Bruder und die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen ausladenden Armbewegung ins Nichts gefegt werden. Auch dies war eine Geste, die einer längst vergangenen Zeit angehörte. Winston wachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen auf.

      Aus dem Telemonitor drang ein ohrenbetäubendes Pfeifen, das eine halbe Minute auf derselben Tonhöhe anhielt. Es war Punkt sieben Uhr fünfzehn, Zeit zum Aufstehen für alle Büroangestellten. Winston quälte sich aus dem Bett – nackt, denn als Mitglied der Äußeren Partei erhielt man nur dreitausend Kleidermarken pro Jahr, und ein Schlafanzug kostete sechshundert – und schnappte sich ein schmuddeliges Unterhemd und eine Shorts, die über einem Stuhl lagen. In drei Minuten begann der Frühsport. Im nächsten Moment wurde er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, der ihn fast immer nach dem Aufwachen überfiel. Das zog ihm so stark die Luft aus den Lungen, dass er erst dann wieder zu Atem kam, wenn er sich flach auf den Rücken legte und mehrmals tief nach Luft rang. Seine Adern waren von der Anstrengung des Hustens geschwollen, das Krampfadergeschwür begann zu jucken.

      »Gruppe Dreißig bis Vierzig!«, rief eine durchdringende Frauenstimme. »Gruppe Dreißig bis Vierzig! Bitte in Position. Die Dreißig- bis Vierzigjährigen!«

      Winston stand vor dem Telemonitor stramm, auf dem inzwischen das Bild einer jüngeren Frau zu sehen war, die hager, aber muskulös aussah und Trikot und Sportschuhe trug.

      »Arme beugen und strecken!«, stieß sie knapp hervor. »In meinem Takt. Eins, zwei, drei, vier! Kommt schon, Genossen, etwas schwungvoller! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! …«

      Der Schmerz des Hustenanfalls hatte aus Winstons Geist noch nicht ganz die Eindrücke vertrieben, die von dem Traum herrührten, und die rhythmischen Bewegungen der Leibesübung riefen diese Eindrücke nun erneut wach. Während er seine Arme mechanisch vor- und zurückschnellen ließ, eine Miene grimmigen Vergnügens zur Schau tragend, die beim Frühsport für angemessen erachtet wurde, versuchte er mühsam, sich in Gedanken in die undeutliche Zeit seiner frühen Kindheit zurückzuversetzen. Das war außerordentlich schwierig. In der Zeitspanne vor den späten 50er Jahren verblasste alles. Hatte man keine Aufzeichnungen zur Hand, die man zurate ziehen konnte, verloren sogar die Umrisse des eigenen Lebens ihre scharfen Konturen. Man erinnerte sich an große Ereignisse, die vermutlich gar nicht stattgefunden hatten, man erinnerte sich an Details einiger Vorfälle, ohne deren Atmosphäre greifen zu können, und dann waren da die langen, leeren Zeitabschnitte, denen man nichts zuordnen konnte. Alles war damals anders gewesen. Selbst die Namen von Ländern und deren Formen auf der Landkarte waren anders gewesen. Landefeld Eins zum Beispiel war früher nicht so bezeichnet worden: Es hatte England oder Großbritannien geheißen, London hingegen, da war er sich ziemlich sicher, hatte immer schon London geheißen.

      Winston konnte sich nicht genau an eine Zeit erinnern, in der sich sein Land nicht im Krieg befunden hatte, aber offenbar hatte es während seiner Kindheit eine ziemlich lange Phase des Friedens gegeben, denn eine seiner frühesten Erinnerungen war ein Luftangriff, der alle und jeden zu überraschen schien. Vielleicht war es die Zeit, als die Atombombe auf Colchester gefallen war. An den Luftangriff selbst konnte er sich nicht mehr erinnern, er erinnerte sich aber an die Hand seines Vaters, die seine fest umschloss, als sie nach unten hasteten, immer weiter und weiter nach unten an einen Ort tief unter der Erde, Runde um Runde auf einer Wendeltreppe, die unter seinen Schritten metallisch klang und ihm schließlich die Beine so schwer machte, dass er zu jammern anfing und sie stehenbleiben und ausruhen mussten. Seine Mutter, in ihrer trägen, träumerischen Art, hing weit hinter ihnen zurück. Sie trug seine kleine Schwester – vielleicht hatte sie aber auch nur einen Stapel Decken auf dem Arm: Er war sich nicht sicher, ob seine Schwester damals schon geboren war. Schlussendlich gelangten sie an einen lauten, überfüllten Ort, der sich als eine U-Bahn-Station erwies.

      Überall auf dem mit Steinplatten ausgelegten Boden kauerten Menschen, andere Leute hockten dicht gedrängt auf eisernen Stockbetten, eins über dem anderen. Winston, seine Mutter und sein Vater suchten sich einen Platz auf dem Boden, und neben ihnen saßen ein alter Mann und eine alte Frau nebeneinander auf einem Stockbett. Der alte Mann trug einen ordentlichen dunklen Anzug und hatte sich die schwarze Stoffmütze vom schlohweißen Haar geschoben: sein Gesicht war scharlachrot, seine Augen waren blau und voller Tränen. Er stank nach Gin. Seine Haut schien Gin statt Schweiß auszudünsten, und man hätte sich vorstellen können, dass die Tränen, die aus seinen Augen quollen, reiner Gin waren. Aber obwohl er leicht betrunken war, litt er auch an einem Kummer, der echt und unerträglich war. In seiner kindlichen Art begriff Winston, dass sich soeben etwas Furchtbares ereignet hatte, etwas, das jenseits aller Vergebung lag und nicht wiedergutgemacht werden konnte. Er schien auch zu wissen, was das war. Jemand, den der alte Mann liebte, vielleicht eine kleine Enkeltochter, war getötet worden. Alle paar Augenblicke wiederholte der alte Mann:

      »Wir hätt’n denen nich trauen soll’n. Hab ich’s nich immer gesagt, Mutter? Das kommt davon, wenn man denen traut. Hab ich ja immer gesagt. Wir hätt’n den Halunken einfach nicht trau’n soll’n.«

      Aber welchen Halunken sie nicht hätten trauen dürfen, daran konnte sich Winston nicht mehr erinnern.

      Etwa seit jener Zeit hatte es praktisch dauernd Krieg gegeben, obwohl es sich strenggenommen nicht immer um denselben Krieg gehandelt hatte. In seiner Kindheit war es mehrere Monate lang in London selbst zu wirren Straßenkämpfen gekommen, von denen ihm einige noch lebhaft vor Augen standen. Aber dem historischen Verlauf der ganzen Epoche nachzuspüren und festzustellen, wer wann gegen wen gekämpft hatte, wäre absolut unmöglich gewesen, da weder ein schriftlicher Beleg noch eine mündliche Überlieferung je eine andere Konstellation erwähnt hätte als die gegenwärtig geltende. Im Augenblick zum Beispiel, im Jahr 1984 (wenn es wirklich 1984 war), befand sich Ozeanien im Krieg mit Eurasien und war mit Ostasien verbündet. In keiner öffentlichen oder privaten Äußerung wurde je eingeräumt, dass die drei Mächte irgendwann einmal anders zueinandergestanden hätten. Tatsächlich jedoch, und das wusste Winston genau, war es gerade einmal vier Jahre her, dass Ozeanien Krieg gegen Ostasien geführt hatte und ein Bündnis mit Eurasien eingegangen war. Doch das war ein geheimes Wissen, das er auch nur deshalb besaß, weil sein Erinnerungsvermögen keiner ausreichenden Kontrolle unterlag. Offiziell hatte dieser Wechsel der Bündnispartner nie stattgefunden. Ozeanien befand sich im Krieg mit Eurasien: Deshalb hatte sich Ozeanien immer schon mit Eurasien im Krieg befunden. Der gegenwärtige Feind stand immer für das absolut Böse, und daraus folgte, dass mit diesem Feind jede vergangene oder zukünftige Übereinkunft undenkbar war.

      Das Beängstigende an der Sache war, überlegte er zum zehntausendsten Mal, während er seine Schultern schmerzhaft


Скачать книгу
Яндекс.Метрика