Unsere Popmoderne. Marc DegensЧитать онлайн книгу.
ich am anderen Morgen meine Augen öffnete, schaute ich in das Gesicht eines dicken Jungen mit Brille und Augenpflaster. Hilfe, es war Dienstag, Kindertag, alles kostete den halben Preis! Ich war viel zu spät dran. Ich rappelte mich hoch, mir war speiübel. Hinter dem Jungen stand eine bildhübsche, solariumgebräunte Frau in einem bauchfreien Dolce & Gabbana-T-Shirt mit kurzen, rotschwarzen Haaren, einem Tribal-Tattoo auf dem linken Oberarm und einem Medusa-Piercing über der Oberlippe. In der einen Hand hielt sie eine Zigarette, in der anderen ein Mobiltelefon. Noch ehe sie ein Wort sagen konnte, hatte ich mich in sie verliebt.
Ein Auszug aus dem im Herbst erscheinenden Kurzroman »Sternenflüchtig« von Alexander Fellhauer wird beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt vorgetragen, allerdings nicht vom Autor, sondern vom Lektor des autobiographischen Buches. In »Sternenflüchtig« erzählt der inzwischen zwanzigjährige Fellhauer von seinem fluchtartigen Verschwinden nach dem Abitur, seiner Liebesaffäre mit einer alleinerziehenden, arbeitslosen Grafikdesignerin aus Prenzlau und seinen Erfahrungen in der rechtsradikalen Szene in der Uckermark. Da der Autor wünscht, dass sein Aufenthaltsort weiterhin geheim bleibt, erlaubte es die Jury dieses Jahr erstmals, dass ein Wettbewerbstext von einem Stellvertreter vorgelesen wird.
Ich nichts denken
Ich habe mit vielen Männern geschlafen … sehr vielen … wahrscheinlich zu vielen. Ich habe nur mit einem einzigen Mann mehrmals geschlafen … hundertmal … tausendmal. Dieser Mann war mein Vater. Ich habe meinen Vater geliebt … Ich habe meinen Vater gehasst.
Bei seinem Begräbnis habe ich geweint … meine Mutter stand direkt neben mir … ihre Augen versteckte sie hinter dicken, schwarzen Brillengläsern.
Meine Mutter hat meinen Vater nicht geliebt … die Tränen, die ihre Wangen hinunterkullerten, waren falsch … Wasser. Mein Vater und meine Mutter haben sich belogen … sie haben sich betrogen … sie haben sich ständig etwas vorgemacht. Ununterbrochen … immer … von Anfang an … ein Leben lang.
Geschlossen marschierte der Trauerzug nach der Beerdigung in eine Taverne … in die Stammkneipe meines Vaters. Alle waren im Handumdrehen besoffen … Leichenschmaus … Wettfressen … Preissaufen. Die Männer grölten schweinische Verse … die Frauen lästerten über andere Frauen. Ich habe nichts getrunken … keinen Schluck.
Auf der Herrentoilette habe ich den Geliebten meiner Mutter verführt … es war ganz leicht … ein Kinderspiel. Ich habe ihn vom Pissoir weggezogen … mich vor ihn hingekniet … den Mund geöffnet … seinen Schwanz gelutscht … seinen Samen geschluckt.
Die Toilette roch nach Urin und Desinfektionsmitteln und verwelkten Schnittblumen. Anschließend hat der Geliebte meiner Mutter ins Waschbecken gekotzt.
Ich fuhr mit einem Taxi in meine Wohnung. Ich habe aufgeräumt … ich habe abgewaschen … gesaugt.
Am Nachmittag klingelte es an der Wohnungstür. Es war Marcel … Wir waren verabredet … wir wollten ins Kino gehen … Ich habe die Tür nicht geöffnet. Ich habe den Fernseher eingeschaltet und mir Sportsendungen angeschaut … Wenn mein Vater mich vögelte, lief oft der Fernseher. Er liebte Sportsendungen … Fußball … Eishockey … Radrennen … alles … Das habe ich nie verstanden.
Am Abend ging ich aus, ich trug immer noch meine schwarze Trauerkleidung. Ich fuhr mit der Metro ins Zeitungsviertel. Eine Freundin hatte mir erzählt, dass hier kürzlich ein neuer Nachtclub aufgemacht habe … Ich habe ihn nicht gefunden. Auf der Straße sprach mich ein Ausländer an. Er wollte zum Gare de l’Est … ich schickte ihn in die entgegengesetzte Richtung.
Ich ging in eine überfüllte Bar, setzte mich an den Tresen und bestellte einen Martini.
Ein Schnauzbart sprach mich an. »Ich habe dich schon einmal gesehen!«
Ich antwortete. »Du hast mich aber noch nicht nackt gesehen!« Ich ließ ihn abblitzen, er war hässlich.
In der Ecke stand ein junger Mann … zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig … blond, schmalhüftig, groß. Er sah so süß und so verdammt dumm aus … Ich wollte Sex mit ihm haben … auf der Stelle … jetzt gleich, sofort … hier … heute Nacht.
Der autobiographische Roman »Ich Nichts Denken« der erst zweiundzwanzigjährigen Pariser Schriftstellerin Albertine Mounier zählt in Frankreich zu den erfolgreichsten und meistdiskutierten Büchern der letzten Jahre. Albertine Mounier, die Tochter des 1998 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Philosophen und Zeitungskolumnisten Paul Mounier, bezeichnete ihr Buch in einem Radiointerview als »literarischen Selbstmord und persönliche Sterbehilfe«. Der Roman löste in Frankreich höchst unterschiedliche Reaktionen aus, nicht nur die Schilderung der inzestuösen Beziehung zu ihrem Vater, auch die schonungslose Nennung und Beschreibung ihrer zahlreichen Sexualpartner – vor allen Dingen das Verhältnis mit dem rechtskonservativen Politiker Alain Revel – führten zu einem regelrechten Skandal und brachten der Autorin Morddrohungen und Vorwürfe der Egomanie und blinden Zerstörungssucht ein. Gegen Albertine Mounier und den Verlag Brasson laufen noch siebzehn Verleumdungsklagen, in einer Zeitungsanzeige erklärten sich jüngst annähernd fünfzig französische Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler mit der Autorin solidarisch.
Der unsichtbare Angestellte
Manche Menschen halten mich für einen Geist. Aber ich bin kein Geist. Ich lebe. Ich bin aus Fleisch und Blut und arbeite für einen großen Versicherungskonzern in Göteborg, SÄKERHET, es ist einer der größten Versicherungskonzerne in Schweden. Ich arbeite jede Woche sechsunddreißigeinhalb Stunden, keine Minute mehr, keine Minute weniger. Von Montagabend bis Samstagfrüh, außer an gesetzlichen Feiertagen.
Pünktlich an jedem Monatsersten überweist mein Arbeitgeber das Gehalt auf mein Konto 48360647 bei der Königlich-Schwedischen Drei-Kronen-Bank. Mein Bruttoeinkommen beträgt zur Zeit 39.740 Kronen pro Monat. Die Urlaubstage lasse ich mir als Überstunden auszahlen. Am Ende jedes Jahres werden meine Bezüge um 1,25 Prozent angehoben. Ich halte das für angemessen.
Seit siebenunddreißig Jahren arbeite ich für SÄKERHET, doch niemand weiß, wie ich aussehe. Ob ich ungepflegt zur Arbeit erscheine, in Jeans oder im Dreiteiler. Ob ich einen Bart trage, Brille oder Glatze. Ob ich groß bin oder klein, gedrungen oder schmal, blass oder braungebrannt, ob ich Handball mag oder Eishockey.
Meine Vorgesetzte Malin Kindvall hat mich noch nie gesehen. Auch keiner meiner Kollegen und Kolleginnen. Hasse Skoglund (Referat 2.4.1.1, später Referat 2.4.2), der letzte Kollege, der mich noch persönlich kannte, ist vor dreiundzwanzig Jahren, im Marienkäfersommer 1986, gestorben. Ich habe die Kondolenzkarte für seine Familie unterschrieben und mich finanziell an dem Trauerkranz für seine Beerdigung beteiligt.
Ich bin ein Musterangestellter. In den gesamten siebenunddreißig Jahren habe ich keinen einzigen Tag gefehlt. So soll es auch bleiben. Noch nie hat sich jemand über mich beklagt. Es gibt auch keinen Grund dafür.
In der Regel betrete ich das Gebäude um einundzwanzig Uhr dreißig. Die Pförtnerloge ist dann unbesetzt und die Reinigungskräfte haben das Gebäude bereits verlassen. Ich melde mich am Zeiterfassungssystem an und gehe zu meinem Arbeitsplatz im dritten Stockwerk. Es gibt einen Aufzug, doch ich nehme die Treppe. Ich nehme immer die Treppe, in Fahrstuhlkabinen bekomme ich Platzangst.
Mein Schreibtisch ist fast immer leer. Manchmal liegt eine Aktenmappe darauf – oder eine Zeitung oder eine Plastiktüte. Ich lege die Aktenmappe, die Zeitung oder die Plastiktüte dann auf die Fensterbank oder auf den Schreibtisch meines Kollegen. Ich teile mir das Büro mit Ove Alexandersson (Referat 2.2.6). Er ist ein angenehmer, unauffälliger Kollege, ich kann nichts Negatives über ihn sagen.
Ich schaue, ob Ove Alexandersson seine Kaffeetasse gespült und die Blumen gegossen hat. Dann prüfe ich, ob die Mülleimer geleert wurden, in den letzten fünf Monaten wurde das bereits zweimal versäumt. Ich habe mir vorgenommen, beim nächsten Mal einen Beschwerdebrief an die Reinigungsfirma zu schreiben.
Nachdem