Hier keine Kunst. Marc DegensЧитать онлайн книгу.
das Streugut knirschte unter meinen Schuhen. Mit klopfendem Herzen betrachtete ich die Bücher in der Schaufensterauslage der Buchhandlung. Eines Tages wird auch mein Roman hier ausgestellt werden. Die schwarze Welt. Ein dickes Buch mit festem Einband und Lesebändchen, gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. An der Hauswand erblickte ich eine Tafel mit einer Inschrift:
In diesem Hause
arbeiteten und wohnten
Bertolt Brecht
und
Helene Weigel
Tafeln pflastern seinen Weg. Dafür lohnt sich doch der ganze Aufwand. Hier entstand dieses Werk … Da holte sich jener die Franzosenkrankheit … Dort entsandte Iksypsilon seine Winde in die Luft. Von solchen Dingen leben ganze Branchen, Reiseführer, Historiker, Busfahrer, der Zigarettenhändler an der Ecke. Vielleicht sollte ich mit einer Autobiographie mein Werk beginnen? Der Weg nach oben. Das würde meinen Nachfahren viele Gänge ins Archiv ersparen. Inmitten meiner Gedanken meldete sich mein Magen fingerschnippend zu Wort. Ich hatte Kohldampf, einen Mordshunger. Schließlich hatte ich ja auch noch nichts Anständiges gegessen – im Zug nur das flüssige Frühstück aus Hopfen und Malz. Ein Königreich für einen Döner! Wo lang? Da lang.
Nach ein paar Metern kam ich an einem Ladenlokal mit einem großen vergitterten, zuletzt in der Steinzeit geputzten Fenster vorbei. Oben drüber stand in großen Buchstaben KUNSTFERNSEHEN. Ich schaute in die Geschäftsräume, sie waren leer. Kein Schreibtisch und keine Sitzgelegenheiten befanden sich im Raum, von der Decke baumelte noch nicht einmal eine Glühlampenfassung. War das ein Symbol? Ein Denkoder Mahnmal? Auf alle Fälle wußte ich, daß meine Entscheidung,in diese Stadt zu ziehen, die richtige war. Augenscheinlich war man an diesem Ort auch für die absonderlichsten Geschäftsideen empfänglich. Kunstfernsehen … Warum nicht? Wenn es Frau und Kinder ernährt.
Ich schlenderte weiter durch die menschenleeren Straßen, vorbei an bröseligen Mietskasernen und pockennarbigen Hausfassaden mit blättrigem Putz. Hin und wieder kamen mir betrunkene Einzelgänger entgegen, die heimwärts wankten. Ich genoß die Stille und die Nacht, trotz meines Bärenhungers. Die Bilder überwältigten mich, überall stieß ich auf Geschichte, Geschichten, Spuren der Zeit. Und auf Kunst. Ich weiß nicht, wie viele Male ich auf meiner Wanderung dieses Wort gelesen habe. Das Gardinengeschäft gegenüber der Polizeistation hieß Kunststoffe, die Lokalität an der Ecke Kunst-Café. Mindestens drei Läden verscherbelten Künstlerbedarf, die Tierhandlung warb für die Kunst des Angelns und mehrere Kneipen für die schwarze Kunst des Brauens. Dort hauste ein Kunstverein Friedrichstadt, hier ein Neuer Berliner Kunstverein, irgendwo stand das Kunsthaus Tacheles. Ich kam an einem Kunstraum in Mitte vorbei, ein Plakat warb für den Berliner Kunstherbst, selbst der Haarschneider bot seine Dienste als Frisierkunst an. Dort kosteten Kunstblumen nur neunundneunzig Pfennig, hier hing ein Kunstkreuz und an der Ampel drohte ein Aufkleber: Für die Kunst ins Gefängnis. Der Keramikladen verkaufte Art in metal, in der Ruine daneben entstand ein Art-Loft, dort gab es »Art und Weise Dienstleistung«. Form Art, Artvision, Art-Passepartout, Art-Berlin … Mein Gehirn käste. Schwindelig taumelte ich durch die mit Kunst verminten Straßen, bis ich sie erblickte: Eine hell erleuchtete Imbißbude. Die Rettung. Meine Schritte wurden schneller. Nur noch vorbei an der Kunstbank und hinein … Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluß vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, daß man Kunst nicht essen kann. Der Imbiß hatte durchgehend geöffnet und hieß, ich traute meine Augen nicht: »Art & Kebap«. Egal, in der Not frißt der Teufel seine Kinder. Ich schleppte mich zum Tresen und gab meine Bestellung auf.
– Einmal Döner mit allem.
Ich bezahlte eine Kleinigkeit – dafür darf man sich in meiner Heimatstadt noch nicht einmal eine Papierserviette nehmen. Im Gegenzug reichte mir der Hammelschwenker einen Fleischbrotklumpen, der Biß hinein rettete mir das Leben. Ich fraß wie ein Tier und verschüttete fast einen halben Liter Knoblauchsoße auf die Hose von Bert. Biß für Biß formten sich drei neue Wünsche: Musik hören, Alkohol trinken und Frauen gucken. Gestärkt zog ich weiter. An der Ampelkreuzung weissagte mir meine Eingebung eine Himmelsrichtung, ich folgte ihr. Kurze Zeit später betrat ich eine vermuffte, lärmende Gaststätte, eine versunkene Welt. An den Wänden pappten gilbe Tapeten mit Pflanzenmustern, schwarze Beeren und Reblinge, vor den Fenstern hingen Häkelvorhänge und über dem DJ-Pult baumelte einsam eine Discokugel. In den Ecken standen zwei Stehlampen mit bröseligen Lampenschirmen, vor der Bühne waren mehrere Bierbänke aufgebaut. Alles war in ein rotes Dämmerlicht getaucht, die Holztische wackelten, mit den Glasaschenbechern konnte man Menschen erschlagen, unter der Decke hingen Kreidetafeln mit den Getränkepreisen, aus den Zapfhähnen floß eine unbekannte Brühe. Ich fühlte mich wie im Wohnzimmer meiner Großmutter: Aber warum waren so viele Leute hier? Die Bude war gerammelt voll. Menschen, Massen, Rauchschwaden, Nikotinwolken. Überall sah ich Köpfe, Frisuren, Frauen, Mädchen. Es gab keine Luft zum Atmen, ich fühlte mich wie in einer … Nein, das sollte ich besser nicht schreiben.
Über die Bühne derwischte ein wildes Männchen mit zersausten Haaren, es sang und fluchte und schimpfte zur eigenen Klavierbegleitung. Rüm Haart, klaar Kimming. Deliri-liri-lirium. What shall we do with the drunken sailor early in the morning? Ich versuchte mich zum Tresen vorzuschummeln, es war ein Ding der Unmöglichkeit. Nach sechs Jahrhunderten kam ich endlich an die Reihe. Ich bestellte vier halbe Liter Bier. Für mich und mich und mich und mich. Ich balancierte die Glaskrüge zu einem Tisch nahe der Tanzfläche, besetzte einen Stuhl und vergnügte mich mit meinen Schätzen. Nach einem Liter räumte das irre Männchen die Bühne oder wurde geräumt, Schlager erklangen, Blumenlieder, die Hochzeitslieder meiner Eltern. Ei kahnt gät noh sä-tiß-fäk-tschän. Sogleich stampedeten Horden über die Tanzfläche. Zurück blieb ihr Gerede.
– Berlin, das ist so hoch wie Mailand und so teuer wie Madrid.
– Ich finde, die Menschen hier sind wie der Potsdamer Platz.
– Logisch, die Welt ist ja auch kein Cola-Automat, wo unten rauskommt, was man oben eintippt.
– Gott sei Dank bin ich eher task- statt peopleorientiert.
– Und ich arbeite in Quicktime. Aber im Bett brauche ich Realplayer.
– Du glaubst auch an griechische Götter. Für einen schicken Sundowner würdest du sogar das Mittelmeer trockenlegen.
– Ich habe hier schon mal aufgelegt.
– Das Leben ist eben manchmal ein deutscher Autorenfilm. Anfangs super, danach mellow.
– Wollen wir nicht lieber one to one sein?
– Vater sagt, sein Platz ist der Overground.
– Klingt nach dem Beginn einer klassischen Come-together-Story.
– Zu achtundsiebzig Prozent ist das ein Yes.
Ich war ganz kirre und das Bier im Handumdrehen alle. Berlin drehte sich, ich mich, die ganze Welt. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Gehen? Oder pinkeln und gehen? Vor dem Tresen stand eine Riesenschlange, kein Durchkommen. Und eine Toilette gab es anscheinend auch nicht. Was tun? Die Musik hämmerte in meinem Schädel, Fratzen starrten mich an, ich starrte zurück. Sprechblasen schwappten durch meinen Kopf, Wortfetzen, Satzscherben, ganz viele words – über einhundertachtzig Wörter pro Minute. Ich mußte sofort etwas unternehmen. Ich fixierte eine Frau auf der Tanzfläche, eine wunderschöne Brust, einen prachtvollen Busen. Ich sammelte meine Kräfte, Konzentration, nahm Schwung … Eins, zwei, drei, ich erhob mich und stieß mich von der Tischkante ab. Ich sauste durch Raum und Zeit, in 3D, vorbei an dem Kleiderständer, torkelte auf die Tanzfläche und dann
Filmriß. Peinlich, aber wahr. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Gerade hatte ich meinem Untersatz adieu gesagt, um eine kesse Sohle aufs Parkett zu legen … Als nächstes erwachte ich im Bett des langen Stefans. Mein Schädel brummte wie ein durchgebrannter Zwanzigtausendwattverstärker, ich war mutterseelenallein in der Wohnung. Ich habe keine Ahnung, wie und wann ich hier hingelangt bin. Ob allein oder mit fremder Hilfe. Und wer mich bis auf die Unterhose ausgezogen hat. Für Aufklärung wird sicher der lange Stefan sorgen können – schließlich mußte mir jemand die Tür geöffnet haben. Ich kroch