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Krähwinkeltod. Thomas L. ViernauЧитать онлайн книгу.

Krähwinkeltod - Thomas L. Viernau


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Günter ist doch noch ganz okay. Schau dir doch mal den ollen Wüllersbarth an, den Suffkopp, oder Flachbein, der mit seinen vierundsiebzig immer noch herumzigeunert und den Frauen an die Wäsche geht. Da ist doch Günni eher ein harmloses Wesen, auch wenn er manchmal etwas spinnt.«

      Almtrud nickte. Ja, natürlich, da habe sie schon recht. Aber sie wolle ja ihren Günni auch nicht mit solchen Gestalten wie Wüllersbarth und Flachbein verglichen haben, nein, so schlimm sei es um ihn nicht bestellt.

      Günni habe im Moment die fixe Idee, einen Todesschrei gehört zu haben. In der Nacht zum Donnerstag, seitdem brabbele er ohne Unterlass von dem Schrei. Sie traue sich mit ihm gar nicht ins Dorf unter die Leute.

      Wer weiß, was er noch alles für seltsame Dinge von sich gebe. Naja, Günni sei sowieso nicht der fixeste im Kopf. Das wüssten ja alle. Simonchen; Almtrud nannte ihre Tochter, die bestimmt hundert Kilo auf die Waage brachte, immer noch wie zu Kindergartenzeiten Simonchen, also Simonchen habe auch nichts gehört und sie selber schlafe ja, also, da könnte nebenan die Welt untergehen, sie würde da nichts von mitbekommen.

      Heidi stutzte, vor zwei Tagen war sie auch aufgeschreckt mitten in der Nacht. Zuerst glaubte sie einen Schrei gehört zu haben, dann klang es nach dem Gekrächze von herumflatternden Raben. Aber die schliefen normalerweise doch nachts. Ob es vielleicht ein Käuzchen war? Oder doch etwas ganz anderes?

      Sie dachte, dass Giovanni mit Simmi wieder irgendwelche wilden Spielchen machte, es war ein seltsames Geräusch, aber sie war noch ziemlich benommen vom Schlaf, lauschte kurz ins Kinderzimmer, dort war aber alles friedlich, und schlief wieder ein. Sie erzählte Almtrud davon, die mit weitgeöffneten Augen Heidis Bericht verfolgte. Hatte ihr Günni also doch nicht gesponnen? Was war dann die Quelle des Geräuschs? Wieso flatterten Krähen nachts durchs Dorf?

      Heidi zuckte mit den Schultern. Wer weiß, vielleicht sei ja ein wildes Tier verendet, die gäben ja im Todeskampf manchmal schauerliche Geräusche von sich. Und Krähen waren Aasfresser, möglicherweise hatten sie nur ihre gefiederten Kameraden verständigt, dass es etwas zu fressen gab.

      Nachdenklich stapfte Almtrud hinüber zu ihrer Haushälfte. Vielleicht sollte sie Günni ja noch einmal fragen, was er wirklich gehört hatte.

      V

      Landstraße Nr. 16, kurz vor dem Dorf

      Samstag, 29. September 2007

      Mit einem schlechten Gewissen schlenderte Ernst Flachbein Richtung Dorf. Er war seit vier Tagen unterwegs. Auf Tour, nannte er seine monatlichen Ausbrüche aus dem Alltag des Dorflebens. Immer, wenn sein Geld alle war, kam er wieder nach Hause zurück. Manchmal reichte es nicht mal mehr für ein Busticket, dann musste er laufen.

      Trotz seiner vierundsiebzig Jahre war Flachbein noch gut zu Fuß. Er war eine Frohnatur. Meistens jedenfalls. Im Dorf waren seine Eskapaden bekannt. Die anderen nannten ihn etwas neidisch auch den ewigen Zigeuner. Naja, das Herumzigeunern, das lag ihm im Blut. Schon vor vierzig Jahren zog es ihn hinaus. Damals war er mit dem alten Trecker losgefahren, tuckerte wochenlang durch die Gegend, machte dabei stets einen großen Bogen ums Dorf. Er wollte eben was erleben.

      Seine Frau war Kummer gewöhnt. Oftmals wurde sie von der Polizei benachrichtigt, dass sie ihren Mann abholen könne. Er wäre mal wieder aufgegriffen worden. Mittellos, etwas ungepflegt, aber dennoch gesund wie ein Fisch im Wasser.

      Meist lag eine Anzeige wegen öffentlicher Ruhestörung vor, manchmal auch eine wegen sexueller Belästigung. Die konnte jedoch immer abgewehrt werden. Flachbein war harmlos, auch wenn er den Frauen manchmal nachstellte. Angerührt hatte er noch keine.

      Immer, wenn es ihm gelungen war, ein paar Euro zusammenzusparen, machte er sich auf den Weg. Je nachdem, wieviel Geld er hatte, fiel seine Tour etwas länger oder kürzer aus. Diesmal hatte es genau für vier Tage gereicht.

      Übernachtet hatte er einmal in einem alten Heuschuppen, einmal in einer verfallenen Kaserne und einmal unter freiem Himmel. Seine Geldvorräte reichten immer gerade so, um etwas Essbares zu kaufen und sich mit dem Überlandbus oder dem Regio fortzubewegen.

      Das Unterwegssein, das war es, was ihn reizte. Die Landschaft an sich vorbeiziehen zu sehen, alle fünf Minuten einen neuen Horizont zu entdecken, dafür lohnte es sich, die Strapazen auf sich zu nehmen und aus dem sicheren Dorfidyll aufzubrechen.

      Seine Tour hatte ihn bis an den Rand Brandenburgs gebracht. Noch ein paar Kilometer weiter und er wäre in Mecklenburg-Vorpommern gelandet. Doch davor schreckte er zurück. Nein, so weit weg wollte er nun doch nicht.

      Zufrieden mit sich und der Welt zockelte er an dem Samstagmorgen auf der Landstraße Richtung Dorf. Ein Milchtanklaster hatte ihn bis zur großen Kreuzung mitgenommen. Der Milchtanker fuhr weiter in die Prignitz, er musste jetzt nur noch die paar Kilometer bis zum Dorf laufen. Ein schöner Morgenspaziergang, vielleicht drei Stunden Wanderung …

      Und dennoch hatte er ein schlechtes Gewissen. Er hatte vor ein paar Wochen, kurz vor seinem vierundsiebzigsten Geburtstag seiner Frau geschworen, nicht mehr auf Tour zu gehen. Nein, mit dem Herumzigeunern sei jetzt Schluss, versprach er ihr. Elvira war skeptisch, doch sie freute sich. Endlich kam der olle Zausel zur Vernunft.

      Tja, und dann war es wieder passiert. Die Sehnsucht nach der Ferne kam über ihn wie bei Zigarettenrauchern die Sucht nach dem Nikotin. Aus Elviras Portemonnaie hatte er sich einen Hunderter stibitzt und war einfach so am Mittwochmorgen mit dem Überlandbus losgefahren. Erst im Bus hatte er sich beruhigt. Sie hatte nichts bemerkt, war wie immer rüber zu Wally Wüllersbarth gegangen, um mit ihr Kaffee zu trinken. Wally, eigentlich Waltraud, war ihre beste Freundin.

      Er hatte keine wirklichen Freunde im Dorf. Die meisten Nachbarn waren mit sich selbst beschäftigt, grüßten nur kurz und widmeten sich dann ihrem Hof und Garten. Das war ihm zu langweilig. Dutzende Geschichten konnte er erzählen von seinen Touren. Aber sie schienen niemand wirklich zu interessieren. In den kalten Winternächten hatte er angefangen, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Aus dem Lebensmittelmarkt hatte er sich ein paar linierte Schulhefte mitgebracht. Die kosteten nicht viel.

      Da schrieb er alles hinein. Nicht chronologisch geordnet, nein, so, wie es ihm gerade wieder einfiel. Seine Erlebnisse waren vielfältig und aufregend. Er war in einem russischen Panzer mitgefahren und hatte bei Berufsfischern auf dem Kahn geholfen, hatte zwei Tage in einem Kühlhaus verbracht und war zum Helden avanciert, als er einem kleinen Mädchen das Leben rettete. Die Kleine war beim Baden zu weit hinaus ins Tiefe geraten. Sein beherzter Sprung ins Wasser brachte sie wieder zurück. Prustend und heulend lag sie dann im Gras. Die Mutter hatte sich ebenfalls heulend ihm an den Hals geworfen. Naja.

      Als Erntehelfer war er auf einem »Gurkenflieger« gefahren und hatte in den Gewächshäusern Tomaten gepflückt, Spargelstechen war nicht so sein Ding, hatte er aber auch eine Woche ausprobiert. Ein Binnenschiffer nahm ihn einmal elbaufwärts von Mühlberg bis nach Wittenberge mit. Das war toll. Die Welt von einem Schiff aus vorüberziehen zu sehen, war noch einmal etwas ganz Anderes als sie durch das Fenster eines Zuges zu beobachten.

      Ein aufregendes Leben war das, er war eigentlich zufrieden mit dem, was er erlebt hatte. Und jetzt war er wieder zurück.

      Vielleicht noch zweihundert Meter bis zu den ersten Häusern des Dorfes. Die Landstraße war hier schnurgerade. Links und rechts war die große Einöde der abgeernteten Felder, nichts bot sich dem Auge als Ruhepunkt an außer den Dächern des Dorfes. Selten kam ein Fahrzeug vorbei. Die Landstraße verband nur kleine Flecken miteinander. Irgendwo im Norden mündete sie dann auch in eine größere Fernverkehrsstraße. Er kannte die Stelle. Ein gelbes Schild zeigte schon lange vorher den Abzweig an.

      Jetzt kam erst einmal ein grünes Schild mit gelben Buchstaben. Das waren die neuen Ortsteilbezeichnungen. Seit acht Jahren war das Dorf kein eigenständiges Dorf mehr, sondern eingemeindet worden. Der offizielle Name war seitdem »Siedlung Krähwinkel – Gemeinde Ruppiner Heide«.

      Flachbein war das egal. Er nannte die vierzehn Häuser inmitten der Felder einfach nur das Dorf.

      So wie alle anderen


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