Im Reich der hungrigen Geister. Gabor MateЧитать онлайн книгу.
Gefühl völliger Unverwundbarkeit“, sagt Judy, eine sechsunddreißigjährige Heroin- und Kokainabhängige, die jetzt versucht, von ihrer zwei Jahrzehnte währenden Sucht loszukommen. „Ich habe eine Menge Probleme. Ein Großteil der Gründe, warum ich Drogen nehme, besteht darin, dass ich diese Gedanken und Emotionen loswerden und sie vertuschen will.“
Die Frage lautet nie „Warum die Sucht?“, sondern „Warum der Schmerz?“.
Die Forschungsliteratur ist eindeutig: Die meisten schwerst Substanzabhängigen kommen aus misshandelnden Familien.4 Die Mehrheit meiner Patienten aus den heruntergekommenen Vierteln erlitt schon früh im Leben schwere Vernachlässigung und Misshandlung. Fast alle süchtigen Frauen, die in Downtown Eastside leben, wurden in ihrer Kindheit sexuell missbraucht, ebenso wie viele der Männer. Die autobiografischen Berichte und Fall-Akten der Bewohner von Portland erzählen Geschichten von Schmerz ohne Ende: Vergewaltigung, Schläge, Erniedrigung, Ablehnung, Verlassenwerden, unerbittliche Verleumdung. Als Kinder waren sie gezwungen, Zeuge von gewalttätigen Beziehungen, selbstschädigenden Lebensmustern oder selbstmörderischen Abhängigkeiten ihrer Eltern zu werden – und mussten sich oft um sie kümmern. Oder sie waren für ihre jüngeren Geschwister verantwortlich und versuchten sie vor Missbrauch zu schützen, während sie selbst die tägliche Verletzung ihres eigenen Körpers und ihrer Seele ertrugen. Ein Mann wuchs in einem Hotelzimmer auf, in dem seine Mutter als Prostituierte in der Nacht eine Reihe von Männern befriedigte, während er als Kind auf seiner Schlafstelle auf dem Boden schlief oder es zumindest versuchte.
Carl, ein sechsunddreißigjähriger Ureinwohner, wurde von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht, bekam im Alter von fünf Jahren Spülmittel in die Kehle geschüttet, weil er unflätige Ausdrücke gebraucht hatte, und wurde in einem dunklen Raum an einen Stuhl gefesselt, um seine Hyperaktivität zu bändigen. Wenn er wütend auf sich war – so wie eines Tages, weil er Kokain genommen hatte – ritzte er sich zur Strafe den Fuß mit einem Messer auf. Er gestand mir seine „Sünde“ mit dem Blick eines verängstigten Bengels, der gerade ein Familienerbstück zerschlagen hat und die härteste Vergeltung fürchtet.
Ein anderer Mann beschrieb, wie seine Mutter einen mechanischen Babysitter einsetzte, als er drei Jahre alt war. „Sie ging in die Bar, um zu trinken und Männer aufzureißen. Ihre Idee, um mich zu beschützen und nicht in Schwierigkeiten zu geraten, war, mich in den Trockner zu stecken. Obendrauf stellte sie eine schwere Kiste, damit ich nicht rauskonnte.“ Das Lüftungsloch sorgte dafür, dass der kleine Junge nicht erstickte.
Meine Prosa ist der Aufgabe nicht gewachsen, ein solches, fast nicht vorstellbares Trauma wiederzugeben. „Unsere Schwierigkeit oder Unfähigkeit, die Erfahrungen anderer zu verstehen … ist umso ausgeprägter, je weiter diese Erfahrungen in Zeit, Raum oder Qualität von unseren entfernt sind“, schrieb der Auschwitz-Überlebende Primo Levi.5 Die Tragödie der Hungersnot auf einem fernen Kontinent kann uns berühren, schließlich haben wir alle mal körperlichen Hunger erlebt, wenn auch nur vorübergehend. Aber es erfordert eine größere Anstrengung der emotionalen Vorstellungskraft, sich in einen Süchtigen einzufühlen. Wir empfinden bereitwillig Mitgefühl für ein leidendes Kind, aber wir können nicht das Kind in dem Erwachsenen sehen, der mit gebrochener Seele und isoliert ein paar Häuserblocks von unserem Einkaufs- oder Arbeitsort entfernt ums Überleben kämpft.
Levi zitiert Jean Améry, einen jüdisch-österreichischen Philosophen und Widerstandskämpfer, der der Gestapo in die Hände fiel. „Jeder, der gefoltert wurde, bleibt gefoltert … Jeder, der einmal gefoltert wurde, wird nie wieder in der Lage sein, sich in der Welt entspannt zu fühlen … Der Glaube an die Menschlichkeit, der bereits durch den ersten Schlag ins Gesicht gebrochen und dann durch die Folter zerstört wurde, wird nie wiedererlangt.“6 Améry war erwachsen, als er traumatisiert wurde, ein gereifter Intellektueller, der im Laufe eines Befreiungskrieges vom Feind gefangen genommen wurde. Stellen Sie sich das Entsetzen, den Vertrauensverlust und die unfassbare Verzweiflung des Kindes vor, das nicht von verhassten Feinden, sondern von geliebten Menschen traumatisiert wird.
Nicht alle Süchte haben ihre Wurzeln in Misshandlungen oder Traumata, aber ich denke, dass sie alle auf schmerzliche Erfahrungen zurückzuführen sind. Schmerz steht im Zentrum jedes Suchtverhaltens. Er ist bei Spiel-, Internet-, Kauf- und Arbeitssüchtigen vorhanden. Die Wunde ist vielleicht nicht so tief und der Schmerz nicht so quälend, vielleicht ist er sogar völlig verborgen – aber der Schmerz ist da. Wie wir sehen werden, wirken in jungen Jahren erlebter Stress oder nachteilige Erfahrungen direkt auf die psychologische und auch auf die neurobiologische Suchtempfindlichkeit des Gehirns.
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Ich fragte den siebenundfünfzigjährigen Richard, der seit seiner Jugend süchtig ist, warum er weiterhin Drogen nimmt. „Ich weiß nicht, ich versuche einfach, eine Lücke zu füllen“, antwortete er. „Die Leere in meinem Leben. Die Langeweile. Die Orientierungslosigkeit.“ Ich wusste nur zu gut, was er meinte. „Hier bin ich, Ende fünfzig“, sagte er. „Ich habe keine Frau, keine Kinder. Ich scheine ein Versager zu sein. Die Gesellschaft erwartet, dass man heiratet, Kinder kriegt, einen Job und so weiter. Durch das Kokain bin ich nur in der Lage, so Kleinigkeiten zu erledigen, wie den Toaster neu zu verkabeln, der nicht funktioniert hat, und so muss ich dann nicht das Gefühl haben, als würde ich nicht mehr leben.“ Einige Monate nach unserem Gespräch erlag er einer Kombination aus Lungenkrankheit, Nierenkrebs und Überdosis.
„Ich habe sechs Jahre lang nichts genommen“, sagt Cathy, eine zweiundvierzigjährige Heroin- und Kokainkonsumentin, die nach langer Abwesenheit wieder zurückgekehrt ist in ein schmuddeliges Downtown-Eastside-Hotel. Seit ihrer Rückkehr ist sie mit HIV infiziert. „Die ganzen sechs Jahre sehnte ich mich danach. Es war der Lebensstil. Ich dachte, ich würde etwas verpassen. Und jetzt schaue ich mich um und denke: ‚Was zum Teufel soll ich verpasst haben?‘„ Cathy gesteht, dass sie in der Zeit, als sie keine Drogen nahm, nicht nur die Wirkung der Drogen vermisste, sondern auch die Aufgeregtheit der Drogensuche und die Rituale, die die Drogensucht mit sich bringt. „Ich wusste einfach nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Es fühlte sich leer an.“
Das Gefühl der Leere durchzieht unsere gesamte Kultur. Der Drogensüchtige ist sich dieser Leere schmerzhafter bewusst als die meisten Menschen und er hat nur begrenzte Möglichkeiten, ihr zu entkommen. Der Rest von uns findet andere Wege, um die Angst vor der Leere zu unterdrücken oder sich von ihr abzulenken. Wenn wir nichts haben, mit dem wir uns gedanklich beschäftigen können, können negative Erinnerungen, beunruhigende Ängste, Unbehagen oder nagender geistiger Stumpfsinn, den wir Langeweile nennen, aufkommen. Drogensüchtige wollen um jeden Preis vermeiden, mit ihrem Verstand „Zeit allein“ zu verbringen. In geringerem Maße sind Verhaltenszwänge auch Reaktionen auf diesen Terror der Leere.
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„Opium“, so schrieb Thomas De Quincey, sei ein mächtiges „Gegenmittel … gegen den gewaltigen Fluch des taedium vitae“ – der Langeweile des Lebens.
Der Mensch will nicht nur überleben, sondern auch leben. Wir sehnen uns danach, das Leben in all seiner Lebendigkeit zu erfahren, mit voller, ungebändigter Emotion. Erwachsene beneiden die offenherzigen und aufgeschlossenen Erkundungen der Kinder. Wenn wir ihre Freude und Neugierde sehen, sehnen wir uns nach unserer eigenen verlorenen Fähigkeit, die Welt mit großen Augen zu bestaunen. Langeweile, die in einem grundlegenden Unbehagen mit sich selbst wurzelt, ist einer der am wenigsten erträglichen psychischen Zustände.
Für den Süchtigen bietet die Droge einen Weg, sich wieder lebendig zu fühlen, wenn auch nur vorübergehend. „Ich fühlte tiefe Ehrfurcht vor dem Alltäglichen“, erinnert sich der Autor und Bankräuber Stephen Reid an seinen ersten Morphium-Trip. Thomas De Quincey preist die Macht des Opiums, „die Genussfähigkeit zu stimulieren“.
Carol ist dreiundzwanzig Jahre alt und wohnt im Stanley Hotel der Portland Hotel Society. Ihre Nase und Lippen sind mit Ringen gepierct. Um ihren Hals trägt sie eine Kette mit einem schwarzen Metallkreuz. Ihre Frisur ist ein rosa gefärbter Irokesenschnitt, der hinten in blonden Locken ausläuft, die bis zu den Schultern reichen. Carol ist eine aufgeweckte, geistig bewegliche junge Frau, die seit ihrer Flucht von zu Hause im Alter von fünfzehn Jahren Meth spritzt und heroinabhängig ist. Das Stanley ist ihr erstes stabiles