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Im Reich der hungrigen Geister. Gabor MateЧитать онлайн книгу.

Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate


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Gesicht zu erkennen. „Nun“, sie hob die Schultern und stand auf, um zu gehen, „man sagte mir, sie sei tot.“ Oft schon ist mir die kindliche Unbekümmertheit meiner süchtigen Patienten aufgefallen, wenn sie mich belogen haben. Eine naive Manipulation wie die, die Serena versuchte, ist einfach Teil des Spiels, und erwischt zu werden, ist nicht schlimmer, als beim Versteckspiel gefunden zu werden.

      Ihre HIV-Behandlung war schon lange eine Quelle der Auseinandersetzung zwischen uns, da sie sich gewöhnlich weigert, Blutbilder machen zu lassen. „Ich weiß nicht, welche Behandlung Sie brauchen“, erkläre ich, „wenn ich nicht den Zustand Ihres Immunsystems kenne.“ Einmal versuchte ich völlig frustriert, sie mit der Drohung, ihr das Methadon vorzuenthalten, zu den Bluttests zu zwingen. Eine Woche später nahm ich es zurück. „Ich habe kein Recht, Sie zu irgendetwas zu zwingen“, sagte ich als Entschuldigung. „Das Methadon hat nichts mit HIV zu tun. Ob Sie sich testen lassen oder nicht, hängt ganz von Ihnen ab. Ich kann Ihnen nur meinen guten Rat geben. Es tut mir leid.“ „Danke, Maté“, sagte Serena. „Ich will nur nicht, dass mich jemand kontrolliert.“ Bald darauf unterzog sie sich freiwillig den erforderlichen Tests. Und bis jetzt waren ihre Immunwerte gut genug, sodass keine antiviralen Medikamente nötig waren.

      Die Frage der Kontrolle ist ein heikles Thema. Kein Teil der Bevölkerung fühlt sich so ohnmächtig wie die Drogensüchtigen in Downtown Eastside. Selbst dem Durchschnittsbürger fällt es aus einer Vielzahl kultureller und psychologischer Gründe schwer, die Autorität eines Arztes infrage zu stellen. Als Autoritätsperson löst der Arzt bei vielen von uns ein tief verwurzeltes Gefühl der kindlichen Machtlosigkeit aus – ich selbst habe diese Erfahrung sogar noch Jahre nach Abschluss meiner medizinischen Ausbildung gemacht, als ich in Behandlung war. Aber im Fall eines Drogensüchtigen ist die Entmachtung real, spürbar und sehr präsent. Bei seiner Verstrickung in illegale Aktivitäten zur Finanzierung seiner Lebensgewohnheit – eine Gewohnheit, die an sich schon illegal ist – wird der Süchtige von allen Seiten durch Gesetze, Regeln und Vorschriften eingeengt. Es kommt mir manchmal so vor, als ob aus der Sicht meiner süchtigen Patienten die Aufgaben der Kriminalbeamten, Staatsanwälte und Richter auf mich als Arzt übertragen werden. Für sie bin ich nicht nur als Heiler, sondern auch als Vollstrecker da.

      Da der Downtown-Eastside-Süchtige meist aus einem sozial benachteiligten Umfeld stammt und wiederholt durch Gerichte und Gefängnisse gegangen ist, ist er nicht daran gewöhnt, Autoritäten direkt herauszufordern. Für seine lebenswichtigen Methadon-Rezepte ist er auf den Arzt angewiesen und daher nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Wenn er mit seinem Arzt nicht zurechtkommt, hat er wenig Spielraum, um sich anderswo behandeln zu lassen: Die Kliniken von Downtown Eastside sind nicht darauf erpicht, die „Problem“-Patienten der anderen zu übernehmen. Viele Süchtige erzählen verbittert von medizinischem Personal, das, wie sie finden, mit Arroganz und Gefühllosigkeit seine „Entweder so oder gar nicht“-Autorität durchsetzt. Bei jeder Konfrontation mit einer Autoritätsperson, sei es eine Krankenschwester, ein Arzt, Polizist oder der Sicherheitsbeamte eines Krankenhauses, ist der Süchtige praktisch hilflos. Niemand akzeptiert seine Seite der Geschichte – oder handelt danach, selbst wenn er es täte.

      Das Gefühl der Macht hängt vom Umfeld ab und korrumpiert. Im Portland habe ich mich bei Verhaltensweisen erwischt, die ich mir in einem anderen Kontext niemals erlauben würde. Vor nicht allzu langer Zeit war eine andere junge Ureinwohnerin in meiner Praxis, ebenfalls methadonabhängig und HIV-infiziert. Ich werde sie Cindy nennen. Am Ende des Besuchs öffnete ich die Tür und rief nach Kim, der Krankenschwester, deren Büro direkt neben meinem liegt: „Nehmen Sie bitte Blut für Cindys HIV-Werte ab, und wir brauchen auch eine Urinanalyse.“ Mehrere Klienten saßen im Wartebereich, und meine Worte waren für alle deutlich zu hören. Cindy, die verletzt wirkte, machte mir leise Vorwürfe. „Sie sollten das nicht so laut sagen.“ Ich war entsetzt. In der „respektablen“ Hausarztpraxis, die ich zwanzig Jahre lang geführt hatte, bevor ich die Arbeit in Downtown Eastside aufnahm, wäre es für mich undenkbar gewesen, eine so unsensible Verletzung der Schweigepflicht zu begehen und jemanden so schamlos in seiner Würde zu verletzen. Ich schloss die Tür und brachte mein Bedauern zum Ausdruck. „Ich war laut“, stimmte ich zu. „Sehr dumm von mir.“ „Ja, das war es“, schoss Cindy zurück, aber etwas besänftigt. Ich dankte ihr für ihre Aufrichtigkeit. „Ich bin es leid, von allen herumgeschubst zu werden“, sagte sie, als sie aufstand, um zu gehen.

      Es gibt noch einen tiefer liegenden Grund für das übertriebene Machtungleichgewicht, das die Arzt-Patienten-Beziehung in Downtown Eastside belastet – nicht spezifisch für diese Gegend, aber hier ist es fast durchgängig vorhanden. In den sich entwickelnden neuronalen Netzen des Kindes, das Misshandlung oder Vernachlässigung erfährt, prägen sich Angst und Misstrauen gegenüber mächtigen Menschen ein, insbesondere gegenüber den Betreuern. Mit der Zeit wird dieses tief verwurzelte Misstrauen durch negative Erfahrungen mit Autoritätspersonen wie Lehrern, Pflegeeltern und Angehörigen des Rechtssystems oder der Ärzteschaft verstärkt. Wann immer ich gegenüber einem meiner Patienten einen scharfen Ton anschlage, Gleichgültigkeit zeige oder gut gemeinten Zwang zu ihren Gunsten ausübe, nehme ich unwissentlich die Züge der Mächtigen an, durch die sie vor Jahrzehnten zum ersten Mal verletzt und verängstigt wurden. Was auch immer meine Absichten sind, am Ende rufe ich Schmerz- und Angstgefühle hervor.

      Aus all diesen und anderen Gründen schützt Serena instinktiv ihre innere Welt vor mir. Dass sie heute um Hilfe bittet, ist dem Vertrauen geschuldet, das wir zwischen uns aufgebaut haben, aber mehr noch ihrer gegenwärtigen Verzweiflung.

      „Gibt es etwas, das Sie mir gegen Depressionen geben können?“, beginnt sie.

      „Meine Großmutter in Kelowna starb vor drei Monaten. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, zu gehen, um bei ihr zu sein.“

      „Sich umzubringen?“

      „Ich bringe mich nicht um, ich nehme nur ein paar Pillen, um …“

      „Das ist Selbstmord.“

      „So nenne ich es nicht. Nur schlafen gehen … und nicht wieder aufwachen.“

      Serena sieht niedergeschlagen und verzweifelt aus. Diesmal ist der Verlust ihrer Großmutter real.

      „Bitte erzählen Sie mir von ihr“, sage ich.

      „Sie war fünfundsechzig. Sie hat mich großgezogen, seit meine Mutter mich entbunden und das Krankenhaus auf der Stelle verlassen hatte. Der Sozialarbeiter musste meine Großmutter anrufen und sie informieren, dass, wenn sie nicht kommen und entsprechende Papiere unterschreiben würde, ich in ein Pflegeheim gesteckt würde.“ Während des gesamten folgenden Gesprächs klingt Serenas Stimme traurig, erstickt und weinerlich. Ihre Tränen hören nur kurzzeitig auf zu fließen.

      „Dann zog sie meine Tochter auf, seit sie ein Jahr war.“ Serena hat ein Kind, das jetzt vierzehn Jahre alt ist und geboren wurde, als Serena selbst fünfzehn war. Serenas Mutter, nun in ihren Vierzigern und ebenfalls eine Patientin von mir, war sechzehn, als sie ihr Neugeborenes verließ. Sie hat jetzt mit ihrem Freund im selben Hastings-Hotel ein Zimmer, in dem Serena wohnt.

      „Wo ist Ihre Tochter jetzt?“

      „Bei meiner Tante Gladys. Ich denke, es geht ihr gut. Nachdem meine Großmutter gestorben war, fing sie an, Speed zu nehmen und das ganze Zeug …“

      „Sie hat mich aufgezogen, auch meinen Bruder Caleb und meine Schwester Devona – eigentlich Cousin und Cousine ersten Grades, aber wir wuchsen wie Geschwister auf.“

      „Was für ein Zuhause hat sie Ihnen gegeben?“

      „Sie gab mir ein perfektes Zuhause – bis ich wegging, um meine Mutter zu finden. So kam ich hierher, um nach meiner Mutter zu suchen.“ Was diese arme Frau ein „perfektes Zuhause“ nennt, wird erschütternd deutlich, als sie ihre Erzählung fortsetzt.

      „Hatten Sie Ihre Mutter vorher noch nicht getroffen?“

      „Nie.“

      „Hatten Sie vorher schon Drogen genommen?“

      „Nicht, bis ich hierher kam, um meine Mutter zu finden.“

      Abgesehen von der Bewegung ihrer rechten Hand, mit der sie sich


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