Big Ideas. Das Psychologie-Buch. Маркус УиксЧитать онлайн книгу.
Fasziniert vom Lernen
Binet studierte Jura, Medizin und Biologie, ehe er sich für Psychologie zu interessieren begann. Vieles eignete er sich im Selbststudium an. Auf jeden Fall wusste er nach der mehr als sieben Jahre währenden Arbeit mit Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpêtrière, dass Versuche präzise durchgeführt und sorgfältig geplant werden müssen. Der Wunsch, die menschliche Intelligenz zu erforschen, entstand aus der Beobachtung seiner beiden Töchter. Er stellte fest, dass sie neue Informationen mal schneller und mal langsamer aufnahmen, je nachdem wie aufmerksam sie waren. Die Umgebung und die aktuelle geistige Verfassung der Kinder schienen das Lernen entscheidend zu beeinflussen.
Nachdem er von Francis Galtons Versuchen gehört hatte, beschloss Binet, eine eigene, breit angelegte Studie durchzuführen. Er wollte mehr über die unterschiedlichen individuellen Fähigkeiten etwa von Mathematikern, Schachspielern, Schriftstellern und Künstlern erfahren. Gleichzeitig setzte er seine Forschungen zur funktionalen Intelligenz von Kindern fort. Dabei stellte er fest, dass Kinder in einem gewissen Alter jeweils bestimmte Fähigkeiten erwerben. Sehr kleine Kinder z. B. können noch nicht abstrakt denken. Die Fähigkeit zum abstrakten Denken schien also auf ein höheres, altersspezifisches Intelligenzlevel hinzudeuten.
1899 erhielt Binet die Einladung, der neu gegründeten Societé libre pour l’étude psychologique de l’enfant – einer Gesellschaft für Kinderpsychologie – beizutreten. Schon bald übernahm er dort eine Führungsrolle und begann, pädagogische Artikel zu publizieren. 1882 war in Frankreich die Schulpflicht für Sechsbis Zwölfjährige eingeführt worden. 1904 wurde Binet in eine Regierungskommission berufen und damit beauftragt, eine Methode zu entwickeln, um das Lernpotenzial von Kindern zu beurteilen.
Der Binet-Simon-Test
Binet machte sich gemeinsam mit Théodore Simon ans Werk. Simon arbeitete am Laboratorium für experimentelle Psychologie an der Pariser Sorbonne, das Binet seit 1894 leitete. Dies war der Beginn einer langen und produktiven Zusammenarbeit.
Intelligenztests werden inzwischen fast standardmäßig eingesetzt, um den schulischen Erfolg von Kindern vorherzusagen. Sie basieren noch heute weitgehend auf dem Binet-Simon-Test.
1905 publizieren Binet und Simon unter dem Titel Methodes nouvelles pour le diagnostique du niveau intellectuel des anormaux in einer psychologischen Fachzeitschrift erste Ergebnisse. Bald danach präsentierten sie eine verbesserte Testversion für Kinder im Alter von drei bis 13, die einfach »Binet-Simon-Test« genannt wurde. Dieser Test wurde 1908 und 1911 noch einmal überarbeitet.
Die beiden Wissenschaftler hatten 30 Aufgaben mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad zusammengestellt, die den durchschnittlichen Fähigkeiten von Kindern bestimmter Altersgruppen entsprachen. Basis dafür waren ihre langjährigen Beobachtungen. Zu den einfachsten Aufgaben gehörte es, mit den Augen einem Lichtstrahl zu folgen oder eine einfache Unterhaltung mit der Person zu führen, die den Test durchführte. Auf bestimmte Körperteile zu deuten, einfache Sätze zu wiederholen oder Wörter wie »Haus« oder »Gabel« zu definieren war schon schwieriger. Noch kniffliger war es, den Unterschied zwischen zwei ähnlichen Objekten zu beschreiben, Dinge aus dem Gedächtnis nachzuzeichnen und aus drei vorgegebenen Wörtern Sätze zu bilden. Als sehr schwierig galt es, sieben zufällig ausgewählte Ziffern zu wiederholen, drei Wörter zu finden, die sich auf »obéissance« reimten, und Fragen wie »Mein Nachbar bekommt seit Kurzem seltsamen Besuch von einem Arzt, einem Anwalt und einem Priester. Was geschieht da?« zu beantworten.
Binet und Simon führten den Test mit 50 Kindern durch, die sich gleichmäßig auf fünf Altersgruppen verteilten. Die Kinder waren von ihren Lehrern ausgewählt worden und galten als durchschnittlich entwickelt, ihre Ergebnisse konnten also als Referenzgröße dienen. Die 30 Aufgaben waren unter streng kontrollierten Bedingungen zu lösen. Binet hatte beim Beobachten seiner Töchter erkannt, dass Kinder sich leicht ablenken lassen und ihr Aufmerksamkeitslevel mit über ihre Leistung entscheidet. Intelligenz setzte sich für ihn aus vielerlei geistigen Fähigkeiten zusammen, die im realen Leben unter wechselnden Bedingungen zum Tragen kommen und durch praktisches Urteilen kontrolliert werden.
»In der Intelligenz gibt es … eine grundlegende Funktion, deren Fehlen oder Veränderung von größter Bedeutung für das praktische Leben ist: das Urteil.«
Alfred Binet
Intelligenz ist keine feste Größe
Binet machte nie einen Hehl aus der begrenzten Aussagekraft des von ihm und Simon entwickelten Tests. Er wies immer wieder darauf hin, dass sich mit ihm nur die intellektuellen Leistungen von Kindern gleichen Alters vergleichen ließen. Bei den überarbeiteten Testversionen von 1908 und 1911 ging es hingegen vornehmlich um die Bewertung unterschiedlicher Altersgruppen, daraus entstand schließlich das Konzept des »Intelligenzalters«.
Binet vertrat die Meinung, dass die geistige Entwicklung ungleichmäßig schnell voranschreite und durch Umweltfaktoren beeinflusst werden könne. Testergebnisse betrachtete er als Momentaufnahmen, ihm zufolge kann das geistige Level eines Individuums sich verändern, wenn die Umstände sich ändern. Binet widersprach damit dem englischen Psychologen Charles Spearman, der behauptete, Intelligenz basiere allein auf biologischen Gegebenheiten.
Binet hielt die Intelligenz nicht für eine fixe Größe, seiner Ansicht nach entwickelte sie sich mit dem Heranwachsen. Auch mit der von ihm erdachten Methode konnte seines Erachtens die Intelligenz eines Menschen nicht absolut gemessen werden. Um ein vollständiges Bild von einer Person zu erhalten, müsse eine begleitende Fallstudie durchgeführt werden. Letztlich erschien es ihm unmöglich, Intelligenz wie eine physikalische Größe zu messen. Seiner Ansicht nach gab es nur die Möglichkeit, sie zu klassifizieren.
Anwendung und Missbrauch
1908 reiste der US-Psychologe Henry H. Goddard nach Europa, dort stieß er auf den Binet-Simon-Test. Er übersetzte die Aufgaben und verteilte rund 22 000 Kopien in den USA, sodass der Test auch dort in Schulen durchgeführt werden konnte. Anders als Binet war Goddard der Auffassung, dass die Intelligenz genetisch bestimmt sei. Er sah im Binet-Simon-Test eine Möglichkeit, »geistesschwache Menschen« zu identifizieren, um sie der Zwangssterilisation zu unterwerfen.
1916 entwickelte der amerikanische Psychologe Lewis Terman Binets Test weiter und benannte ihn in Stanford-Binet-Test um. Nun ging es nicht mehr nur darum, Kindern mit besonderem Förderbedarf zu identifizieren, sondern auch darum, diejenigen herauszufiltern, die sich eher für eine berufsorientierte Ausbildung zu eignen schienen. Faktisch wurden diese Kinder so zu einer Berufslaufbahn verurteilt, die nur untergeordnete Tätigkeiten vorsah. Terman glaubte wie Goddard, dass Intelligenz ererbt sei und sich durch Bildungsmaßnahmen nicht beeinflussen lasse.
Mit dem Binet-Simon-Test ermittelt man einen Intelligenzquotienten (IQ), der ein allgemeines Leistungsniveau repräsentiert. Mit einer solchen Grafik lässt sich zeigen, welcher Anteil einer Bevölkerung über welchen IQ verfügt.
Binet schien zumindest eine Zeit lang nicht mitzubekommen, wie mit seinem Werk umgegangen wurde. Er war ein Einzelgänger, der sich nur selten mit den fachspezifischen Entwicklungen außerhalb seines unmittelbaren Umfelds beschäftigte. In Frankreich, das er nicht ein einziges Mal verließ, wurde der Binet-Simon-Test zu seinen Lebzeiten nicht eingesetzt. Vielleicht ahnte er deshalb nicht, dass seine Forschungsergebnisse erweitert und umgedeutet wurden. Als ihm schließlich zu Ohren kam, wozu sein Test benutzt wurde, verurteilte er den »brutalen Pessimismus« und die »beklagenswerten Urteile« derjenigen, die einem statischen, eindimensionalen Intelligenzbegriff das Wort redeten.
Binets Intelligenztest dient noch heute zur Messung des IQ. In der Folge sind zahllose Forschungsarbeiten entstanden, die unsere Kenntnisse über die menschliche Intelligenz erweitert haben.