MännerMutMacher. Michael StahlЧитать онлайн книгу.
alles zu schnell. Meine Frau erlitt einen sehr hohen Blutverlust mit lebensbedrohlicher Ausdehnung. Die Ärzte handelten schnell, und dadurch wurde die Situation zu einem guten Ausgang gedreht.
Was damals nicht gedreht werden konnte, war das Trauma, in das ich gestürzt war. Ich stand in dem Kreissaal, und ein überwältigendes Gefühl von Hilflosigkeit überflutete mich – die Angst vor dem Verlust meiner Frau und die Ohnmacht, nichts an der Situation ändern zu können.
Mit Jesus hatte ich seit 1988 eine lebendige Beziehung. Er war mir in dem Jahr persönlich begegnet, so wie damals den Jüngern nach der Auferstehung. Wir hatten längere Zeit miteinander gesprochen. Und dennoch stand ich nun mit diesem Gefühl der Gottverlassenheit tief in meiner Seele da. Mein Herz war wie betäubt. Da verstand ich im Kern den Satz „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Es ist ein erschütterndes Gefühl, aus dem man nicht fliehen kann.
Nachdem sich die Situation äußerlich beruhigt hatte, kam die Hebamme mit Daniela auf mich zu. „Wollen Sie Ihre Tochter auf den Arm nehmen?“, fragte sie mich. „Danke, kein Bedarf!“, war meine harte und ablehnende Antwort. Mein Verstand wusste zwar, dass Daniela für den Verlauf der Geburt nicht verantwortlich war. Aber meine zutiefst verletzte Seele und mein verlassenes Herz sprachen andere Gedanken aus. Der Schock und die innere Erstarrung waren meine Schutzreaktion. Der Körper schaltete auf „Funktionsmodus“ um, und ich funktionierte nur noch über den Verstand.
Dieser Zustand hatte leider ein Problem zur Folge: Ich war nicht mehr beziehungsfähig gegenüber Daniela. Aus meinen Emotionen heraus warf ich ihr vor: „Was hast du meiner Frau angetan! Das hat sie nicht verdient, und es ist nicht fair!“ Ich war nicht fähig, diese Emotion zu verdrängen. Die Beziehungslosigkeit zwischen Daniela und mir wurde zu einer permanent vorhandenen Mauer. Meine Frau litt unter diesem Umstand, aber sie machte mir keinen Vorwurf und klagte mich nicht an; sie verstand.
Auch nach einem halben Jahr hatte sich mein emotionaler Zustand noch nicht geändert. Ich hatte das Trauma in mir verkapselt. Keiner kam da heran, auch Jesus nicht, denn beim Öffnen dieser Kammer hätte ich mit offenem Visier dagestanden. Eine Aufarbeitung und die Verarbeitung der Wut auf das Leben hätte mir den „Sinn“ für das Leben genommen, denn dazu war meine Wut geworden!
Dann musste nachträglich ein operativer Eingriff bei meiner Frau vorgenommen werden. Während sie im Krankenhaus war, passierte es.
Ich brachte Daniela und ihre ein Jahr ältere Schwester abends ins Bett. Beide schliefen in einem Zimmer. Die Nacht verlief ruhig und ohne Probleme. Am nächsten Morgen beim Aufwachen hatte ich vor meinen inneren Augen den Schriftzug: „Daniela ist tot!“ Es war eine absolute Gewissheit, ohne jeden Zweifel! Ein weiteres Trauma ...
Ich stand auf und ging leise ins Kinderzimmer. Es war alles ruhig, die ältere Schwester schlief. Dann hob ich die Kinderbettdecke von Daniela hoch. Sie lag mit blauem Gesicht und heraushängender Zunge auf dem Bauch. Es war glasklar, sie war tot!
Erneut schaltete mein innerer Mensch in den erwähnten Funktionsmodus. Ich verließ das Zimmer und rief meine Eltern an. „Könnt ihr bitte die ältere Schwester in einer halben Stunde abholen?“ Auf die Frage „Warum?“ gab ich keine Antwort. Der nächste Schritt war das Aufwecken und Anziehen der älteren Schwester. „Daniela schläft noch. Oma und Opa holen dich jetzt ab. Sie passen auf dich auf.“ Meine Eltern kamen und nahmen sie mit. Ich ließ sie nicht in die Wohnung. Danach informierte ich den Notarzt. Meine Emotionen befanden sich erneut in einer Erstarrung (der Fachausdruck dafür ist „frozen state“, übersetzt „Totstellreflex“). Und wieder konnte ich der Situation nicht entfliehen.
Der Notarzt versuchte Daniela zu reanimieren, ohne Erfolg. Bei der
Obduktion wurde der Todeszeitpunkt auf Mitternacht festgelegt. Die
„Reanimation“ eines Menschen ist eine entwürdigende Handlung. Der Notarzt holte den toten Körper aus dem Bett. Er drückte und kniete sich darauf, bis die ersten Knackgeräusche auftraten.
In den Folgejahren, bis vor etwa sechs Jahren, war ich unfähig, in einen Trauerprozess einzutreten. Was ich nach wie vor spürte, waren Wut, Enttäuschung, Schuld und die unbeantwortete Frage „Warum?“. In mir reifte die Erkenntnis, dass mein Leben so nicht weitergehen durfte! Ich wollte wieder leben: in innerer Freiheit, in Versöhnung mit meiner Biographie – auch bezüglich der dritten und behinderten Tochter. Ich wollte in innerer Gemeinschaft mit meiner Frau leben und in Versöhnung mit dem lebendigen Gott.
Mein Weg führte mich zu einer Verhaltenstherapie bei einer Psychotherapeutin. Meine Versuche mit christlicher Seelsorge im Vorfeld waren fehlgeschlagen. Warum? Zu schnell kam der im Kern richtige und gut gemeinte Ausspruch: „Lege es an das Kreuz. Gib es an Jesus ab. Lade das Schuldgefühl ab!“
Die Verhaltenstherapie half mir, hinzusehen und meine Emotionen bewusst wahrzunehmen, die Gefühle auszuhalten und die tief empfundene Schuld auszusprechen. Und schließlich konnte ich mich mit mir selbst und meiner Biographie aussöhnen! Auch die Beziehung zu meiner Frau erfuhr eine tiefgreifende Heilung. Bezüglich der Beziehung zu dem dreieinigen Gott erlebte ich ihn neu als Vater in meinem Herzen. Er zeigte und schenkte mir seinen Frieden, der über alle Vernunft hinausgeht. Das habe ich erlebt!
Heute bin ich ein fest in mir und in der Gottesbeziehung gegründeter Mensch. Vergebung, Barmherzigkeit, Gnade, die Wahrnehmung meiner eigenen Person und die von anderen sowie eine neu gewonnene Liebe zu Menschen und zum Leben sind meine neue Lebensqualität. Die herzliche, tiefe Vaterbeziehung zu Gott gibt mir Hoffnung, Zuversicht und den Glauben an neue Perspektiven für jeden Menschen.
Meine Überzeugung ist: Jeder im Herzen zur Veränderung bereite Mensch kann auch Veränderung erleben! Es kann seine Zeit dauern. Prozesse sind notwendig. Manchmal sind sie auch schmerzhaft. Ich möchte Menschen zu dieser Bereitschaft verhelfen, ohne ihnen meine Lösungen überzustülpen. Der betroffene Mensch ist selbst Teil der Lösung. Das Problem liegt im „System“ und nicht in dem Menschen selbst. Deshalb kann eine tragfähige Lösung nur aus dem Betroffenen selber kommen.
Meine Lebenswunden sind heute vernarbt wie die Wundmale von Jesus, aber sie bluten nicht mehr! Es kann keine Verbitterung, Wut usw. mehr eindringen. Die Narben erinnern mich, und gleichzeitig ist eine unendliche Dankbarkeit gegenüber Gott da. Meine Tochter ist in meinem Herzen. Eine positive Traurigkeit kommt ab und zu auf, aber darüber freue ich mich. Sie zeigt mir: Ich vergesse nicht!
Deshalb setze ich mich für Menschen ein!
Holger Harsch | Jg. 1967 | verheiratet | 3 Töchter (eine verstorben) | Aalen | Lebensberater | www.lebensberatung-ostalb.de
Der Autor unserer Lebensgeschichte
Ich habe mich gefragt, ob es etwas Besseres gibt, als nur ein spannendes Buch zu lesen oder zu hören. Tatsächlich ist mir etwas eingefallen, und zwar den Autor selbst kennenzulernen und ihn Schritt für Schritt auf seinem Weg bis zum fertigen Buch zu begleiten. Ich stelle mir das richtig spannend vor!
Ich kann mir denken, dass es dich genauso faszinieren könnte, vor allem, wenn es um die realste Geschichte geht, die du dir vorstellen kannst: deine persönliche Lebensgeschichte! Stell dir vor du dürftest den Autor deines Lebens kennenlernen. Welcher Autor? Sind wir nicht selbst die Autoren unserer Geschichte?
Ich möchte dir schildern, wie ich das erlebe:
Seit vielen Jahren schreibe ich Tagebuch. Der Auslöser war ein Einsatz in Rostock. Ich wollte Gottes tägliches Wirken festhalten. Eigentlich erwartete ich spektakuläre Dinge, wie z. B. Heilungen oder Bekehrungen, aber es verlief ganz anders. Meine Einträge beschrieben oft normale Begegnungen mit Menschen, welche wenig von Gott wussten, und erzählten auch von peinlichen Momenten. Am Ende des Einsatzes hatte ich viele kleine Geschichten zu Papier gebracht, und obwohl die meisten davon unseren „stinknormalen“ Alltag beschrieben, entdeckte ich Gottes wunderbare Handschrift darin. Damals war ich so begeistert, dass ich meinen Alltag weiterhin in Tagebüchern festhielt. Ich weiß, das ist nicht „jederMANNs Sache“! Für mich