Ach Du liebe Anthroposophie. Mathias WaisЧитать онлайн книгу.
Letzteres nicht. Fast alle Linkshänder haben zwei etwa gleichwertige, gleich starke Sprachzentren, eines in der linken Hemisphäre, eines in der rechten. (Weil die beiden Sprachzentren manchmal um den Zugang zur Sprech- beziehungsweise Schreibmotorik in Konkurrenz treten, kommt es zu Stottern und Legasthenie). Gewiss, dieser Irrtum ist eine Bagatelle, gemessen an Umfang und Tragweite des Gesamtwerkes. Und vielleicht meinte Steiner es gar nicht so anatomisch als vielmehr ätherisch, den Ätherleib betreffend.
Dennoch führte mich gerade diese Nebensächlichkeit dazu, mich mit Steiners Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu beschäftigen.
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Liebe Freundin,
Steiner und seine Schüler sehen Dich als eine Wissenschaft, Steiner nannte Dich manchmal auch „Geheimwissenschaft“, sprach aber meist einfach von „Geisteswissenschaft“. Vielleicht konnte man das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch akzeptieren. Aber inzwischen ist es Konsens, dass Wissenschaft eine gemeinschaftliche, intersubjektive Angelegenheit ist. Das heißt, dass Methoden und Forschungsergebnisse einer Wissenschaftsrichtung intersubjektiv nachvollziehbar und nachprüfbar sein müssen. Forschungsergebnisse zum Beispiel in der Medizin werden so veröffentlicht, dass andere, die sie nachvollziehen wollen, die Experimente grundsätzlich wiederholen können.
Steiner dagegen nannte Wissenschaft oder Geisteswissenschaft das, was er erschaute. Er. Und zwar nur er. Hat es jemals einen Schüler oder eine Schülerin von Steiner gegeben, der beziehungsweise die zu vergleichbaren geistigen Schauungen gekommen wäre wie der Meister? Was Steiner Geisteswissenschaft nennt, „die“ Geisteswissenschaft, das ist er, das ist seine Art, die Dinge zu erleben und zu verstehen.
Bekanntlich gab es auch vor Steiner Menschen, die zu übersinnlichen Themen Ähnliches dargelegt haben wie er. Um nur das Steiner zeitlich Nächstliegende zu nennen: In dem Werk Isis entschleiert der Theosophin Helena Blavatsky (1831–1891) ist über ähnliche „Geheimnisse“ nachzulesen wie bei Steiner, in allerdings recht chaotischer Darstellungsweise. Auch bei Vertretern der christlichen Mystik finden sich bei bestimmten Themen ähnliche Auffassungen, zum Beispiel über das Wirken der Engel. Kritiker sagen, Steiner habe aus solchen Quellen abgeschrieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass Steiners Ausführungen etwa zur Reinkarnationsidee weit über das hinausgehen, was man anderswo darüber lesen kann. Gerade die Wiederverkörperungslehre ist wohl nirgends so differenziert dargelegt wie bei Steiner.
Aber das macht sie eben noch nicht zur Wissenschaft. Welcher Anthroposoph hat je ähnliches selbst erschaut wie die Reinkarnationsfolgen einzelner Persönlichkeiten, die Steiner in einigen Vorträgen beschrieben hat? Steiner scheint da selbst etwas skeptisch gewesen zu sein. Für diejenigen, die den kolportierten Scherz noch nicht kennen sollten: Eine der ersten Anhängerinnen sprach Steiner auf dem Dornacher Hügel an: „Herr Doktor, ich glaube, ich war Maria Magdalena.“ Darauf er: „Da sind sie die dreiundzwanzigste.“
Dies ist unser Dilemma: Weil wir seine Aussagen nicht nachprüfen können, glauben wir sie. Und das ist vielleicht der Ursprung eines verbissenen Zuges, den Du als real existierende Anthroposophie auch haben kannst.
PS: Das Gerücht, Rudolf Steiner sei in einem früheren Leben Till Eulenspiegel gewesen, ist falsch.
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Liebe Anthroposophie,
man kennt das: Von außen gesehen kannst Du, verehrte Freundin, manchmal sektiererisch wirken, das gilt für Deine Anhänger ebenfalls. Die Stimmung einer Sekte stellt sich ein, wenn man meint, die einzig wahre Wahrheit zu besitzen. Es macht dann auch nichts, dass man diese Wahrheitslehre nicht nachprüfen kann. Man braucht sie gar nicht nachzuprüfen, diese Wahrheit, denn sie stammt von einem „Eingeweihten“, dem wir glauben, weil er irdischen Maßstäben enthoben ist. Nicht-Gläubige und Skeptiker werden dann leicht ausgegrenzt, milde belächelt, es heißt dann, „sie sind noch nicht soweit“ (was ja umgekehrt heißt, dass man selbst als Anhänger schon ziemlich weit ist).
Wäre die Lehre nachprüfbar in einem wissenschaftlichen Sinn, dann müsste man sich von Andersdenkenden und Zweiflern nicht abgrenzen, sondern man würde mit ihnen in einen Austausch treten. Ich habe jedoch nur wenige Anthroposophen kennengelernt, die Lust auf eine Debatte mit Andersdenkenden hatten.
Das brauchen Adepten nicht. Sie wissen schon alles. Eben weil sie es glauben und nicht, weil sie es selbständig und souverän sich selbst und unabhängig vom Meister erarbeitet hätten.
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Liebe Freundin,
offen gestanden tat mir dieser sektiererische Gestus immer schon leid für Dich: Denn wie kannst Du, die Anthroposophie, lebendig bleiben, wenn man nicht über Dich debattiert, über Steiners Ausführungen, über das Verhältnis von Individualitäten zu einer Weltanschauung?
Und dass Du manchmal etwas ältlich wirkst, könnte eben damit zusammenhängen. Eine Lehre, die schon immer alles weiß, auf alles eine Antwort hat, die ist nicht attraktiv. Jedenfalls nicht für moderne Menschen, die eigenständig ihre Standpunkte entwickeln wollen, indem sie suchend einen Diskurs führen. Die Suche an sich kann das Interessante sein, ähnlich wie bei einer Wanderung das Unterwegssein das Reizvolle ist und das Ankommen ein Ende bedeutet. Eine geschlossene Weltanschauung ist nur attraktiv für Menschen, die eine endgültige Wahrheit brauchen: für ihre Sicherheit, für ein Leben in der Gewissheit, dass alles auf dieser Erde und darüber hinaus geregelt ist und seine Ordnung hat. Was dann aber bedeutet, dass es darüber hinaus keine Wahrheiten mehr geben kann. Was nicht bei Steiner steht, das gibt es nicht oder es ist jedenfalls nicht relevant. Oder anders herum: Alles, was der Fall ist auf dieser Erde und darüber, ist bei Steiner schon behandelt, wenn nicht explizit, dann doch verborgen.
PS: Ich weiß nicht, ob Du es schon weißt: Die Zukunft der anthroposophischen Verlage kann jetzt als gesichert gelten. Nachdem sie alle Vorträge, Schriften, Notizen und zwei kritisch editierte Bände mit den von Steiner diktierten Einkaufszetteln sowie alle nordeuropäischen Kohl-, Salat- und Suppenbüchern herausgebracht haben, planen Sie nun ein zwölfbändiges Gemeinschaftswerk Die Kunst des Wasserkochens. Jeder Band korrespondiert mit einer Monatstugend.
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Liebe Anthroposophie,
gegenüber diesen eher unattraktiven Eigenschaften, werte Freundin, habe ich Dich immer als eine Quelle höchst anregender, impulsierender Gedanken und Gesichtspunkte erlebt, aus denen heraus wieder Neues entstehen kann. Neue, weitergehende Gedanken fordert Steiner nach meinem Verständnis geradezu heraus. Ich habe sein Werk nie als einen Katechismus erlebt oder verstanden, den man auswendig lernen sollte, seine Kenntnis nie als Ausweis, dass man dazu gehört, weil man immer weiß, was der Meister wann und wo gesagt hat. Vielmehr lädt Steiner nach meinem Verständnis zu ungewohnten, wenn nicht sogar gewagten Sichtweisen ein. Die Impulsierung mit seinem weit ausgefalteten geistigen Menschenbild erfasste schon früh weite Bereiche wie etwa die Landwirtschaft, die Medizin oder die Heilpädagogik. Schade nur, dass derart Impulsiertes immer schnell kanonisch wird in der „Szene“ und damit Außenstehende schon wieder abschreckt. Entwickelt einer Deiner Anhänger ein Wohnkonzept für alte Menschen, dann ist das gleich „unsere Altenarbeit“. Tritt ein sich zu Dir, liebe Anthroposophie, bekennender Musiker mit neuartigen Kompositionen hervor, dann ist gleich von „unserer Musik“ die Rede – als hätte jeder Adept, und natürlich auch der Meister, daran mitkomponiert.
Trotzdem könntest Du Dich in fortwährender Entwicklung befinden, sofern diejenigen, die sich von Dir inspiriert sehen, in Entwicklung sind, eben weil sie – vielleicht unter anderem – von Dir bewegt werden. Was allerdings bedeuten würde, dass Du, diese Weltanschauung, nicht der Schlusspunkt oder Höhepunkt der Geistesgeschichte der Menschheit bist.
Nichts für ungut: Das würde allerdings auch bedeuten, dass diese exquisite Sicht auf das Weltganze so, wie sie heute sich darstellt, nicht bleiben würde. Nicht bloß, weil es langweilig ist, immer schon auf alles fertige Antworten zu haben, sondern weil diese Weltsicht selbst immer neu reagieren würde auf immer neue Fragen und Herausforderungen.
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Verehrte