Die Kraft des Miteinander. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
Koordinatorin holt ein großes Blatt Papier heraus: »Dann lassen Sie uns gleich loslegen.« Sie setzt ihre Routine fort: »Ich würde nun gern mit Ihnen einmal aufschreiben, wer bei Ihnen im Netzwerk denn alles so vorhanden ist. Es geht noch nicht darum, wer dann auch tatsächlich dabei sein wird. Es geht nur darum, wer grundsätzlich alles zur Verfügung steht.« Die Mutter beugt sich nach vorn, greift nach dem Stift und schreibt ihre Kinder, ihren Lebensgefährten und einen guten Freund des Lebensgefährten auf. »Das sind eigentlich alle, die ich dabeihaben möchte.« Die Koordinatorin setzt nach: »Es geht wie gesagt nicht darum, wer tatsächlich eingeladen werden soll, sondern wer alles so vorhanden ist in Ihrer Umgebung. Wissen Sie, manchmal vergisst man ja Personen, die im Nachhinein wichtig gewesen wären. Schreiben Sie auch gerne Bezugspersonen von Ihren Kindern auf.« Die Mutter zögert und listet mit erklärenden Beschreibungen der einzelnen Beziehungen weitere Personen auf. »Aber wie ich schon sagte: Die, die ich zu Beginn aufgeschrieben habe, die will ich dabeihaben.« Die Koordinatorin schaut auf das Blatt und überlegt, wie sie die Oma als wichtige Bezugsperson aller Kinder ansprechen soll. »Und Ihre Mutter wollen Sie wirklich nicht dabeihaben?« Frau Özgür fällt der Koordinatorin direkt ins Wort: »Nein, alle, bloß nicht meine Mutter. Sie haben ja keine Ahnung, wie das enden würde! Dann bin ich nicht mit dabei!«
»Frau Özgür, könnten Sie sich denn vorstellen, dass Ihre Mutter zumindest einen Brief für den Familienrat schreibt?« Die dreifache Mutter hat keine Einwände. Die Koordinatorin notiert sich das, fährt in der Planung fort und klärt Ort und Zeit mit der Familie ab. »Also, ich möchte nicht, dass das hier stattfindet. Das muss schon an einem neutralen Platz sein. Wir könnten das doch in der Moschee, hier um die Ecke machen, oder Salman?« Frau Özgür beugt sich nach vorn, um ihren Mann anzuschauen. »Ja, wir können mal fragen.« Die Koordinatorin bietet Unterstützung an für den Fall, dass es dort nicht möglich sein könnte. Auch die kulinarische Versorgung wird besprochen. »Ich mache das Lieblingsessen meines Ex-Mannes! Da bin ich aber auf das Gesicht seiner Lebensgefährtin gespannt!« Frau Özgür lacht und wirft dabei ihren Kopf in den Nacken.
Der »unwillige Vater«
Beim ersten Versuch der Kontaktaufnahme und der anfänglichen Begrüßung legt Herr Özgür auf: »Jugendamt? Nein, danke!« Die Koordinatorin schreibt einen Brief, in dem sie das Anliegen mit dem Familienrat erläutert. Auch einen Flyer und einen Internet-Link zu einem Kurzfilm über das Vorgehen legt sie bei.
Der Briefkontakt scheint geholfen zu haben. Herr Özgür ruft die Koordinatorin an: »Was genau wollen Sie denn?« Die Koordinatorin wiegt fast jedes Wort ab, bevor sie es ausspricht. »Es geht um Ihre Kinder. Sie werden nicht ernst genommen und die zuständige Kollegin im Jugendamt möchte das jetzt ändern. Sie möchte Sie ernst nehmen. Mit Ihrer Meinung und Ihrer Sorge, die Sie in Bezug auf Ihre Kinder haben. Und deshalb hat sie mich beauftragt, mit Ihnen einen Familienrat zu koordinieren.« Der Vater wirkt resigniert. »Ach wissen Sie, so oft haben wir schon, also meine Frau und ich, versucht, mit der Mutter der Kinder zu reden. Vergeblich. So oft haben wir die Missstände benannt und dass es so nicht weitergehen kann. Wissen Sie, das sind meine Kinder, und auch wenn sie leider nicht bei mir leben, möchte ich gehört werden. Das ist nicht in Ordnung.«
Die Koordinatorin zeigt Verständnis und versucht deutlich zu machen, dass der Familienrat ihm den Rahmen geben würde, den er jetzt bräuchte, um gehört und in seiner Rolle anerkannt zu werden. »Und inwiefern ist das anders als sonst? Der Mitarbeiterin im Jugendamt traue ich gar nicht mehr über den Weg. Sie nimmt ja meine Briefe nicht ernst und ignoriert sämtliche E-Mails oder Anrufe!« Die Koordinatorin versucht abzulenken und geht wieder auf den Punkt der Ernsthaftigkeit ein: »Der Familienrat ist für Sie die Chance, alle Ihre Sorgen zu platzieren und dafür Gehör zu finden. Sie sollen den Raum bekommen, den Sie so dringend als sorgender Vater benötigen. Kinder leiden ja auch darunter, wenn ihre Eltern so dermaßen zerstritten sind. Das sieht die Mitarbeiterin im Jugendamt ganz genauso und möchte Sie als Vater ernst nehmen.«
Der Vater setzt mit etlichen Berichten aus der Vergangenheit fort. Die Koordinatorin versucht immer wieder deutlich zu machen, dass im Rahmen des Familienrates das Hier und Jetzt angepackt und verändert werden kann. Es vergeht noch eine halbe Stunde, ehe der Vater zögerlich fragt: »Wie genau wird das denn ablaufen, bei so einem Familienrat?« Die Koordinatorin erklärt, dass es damit beginnt, wen er als Vater, wen die Mutter und wen die Kinder als wichtige Personen des Familienrates ansehen. Sie werden zu einem bestimmten Termin eingeladen an einem Ort, an dem sich die gesamte Familie wohlfühlt. »Zu Beginn wird die Mitarbeiterin des Jugendamtes noch mit dabei sein sowie mögliche weitere Fachkräfte, die Sie als Familie gerne dabeihaben möchten. Und nachdem das Jugendamt seine Sorge vorgetragen hat und auch Sie als Familie sagen, welche Sorgen Sie gerne bearbeiten möchten, verlassen die Fachkräfte und ich als Koordinatorin den Raum. Und dann überlegen Sie als Familie mit Ihrem Netzwerk, wie Sie das gemeinsam bewältigen können, und stellen einen Plan auf.« Der Vater bleibt skeptisch und meldet zurück, dass er und seine neue Frau sich Gedanken darüber machen und in der kommenden Woche sich noch einmal telefonisch bei der Koordinatorin melden. »Und wenn wir das machen – wie sollen wir denn nach Norddeutschland kommen? Sie wissen ja, wir leben in Österreich. Und die Großmutter der Kinder würde ich dabeihaben wollen. Sie ist ja auch wichtig für die Kinder.« Die Koordinatorin versichert, dass sie die Kosten dafür übernehmen würde. Und in Bezug auf die gewünschte Teilnahme der Großmutter versichert die Koordinatorin, es zumindest noch einmal mit Frau Özgür zu thematisieren.
In der darauffolgenden Woche meldet der Vater an, für einen Familienrat bereit zu sein. »Aber nur, wenn auch meine Frau kommen kann. Und die Oma der Kinder.« Die Koordinatorin entgegnet: »In Ordnung, ich werde das mit der Mutter besprechen und dann schauen wir, wann das stattfinden kann.« Der Vater erklärt sich einverstanden.
Die Organisation des Familienrats wird von einer unabhängigen Koordination durchgeführt, um durch die Trennung von »Wächteramt« und Organisation/Moderation des Hilfeplanprozesses annähernde Neutralität zu erreichen. Alle Teilnehmenden werden über Ziel und Ablauf des Verfahrens sowie ihre Rechte und die Bedeutsamkeit ihres Mitwirkens für eine die lebensweltliche Autonomie sichernde Lösung des Problems aufgeklärt. Die Koordination orientiert das Setting des Familienrats (Sprache, Ort, Termin, Rituale, Verpflegung) an der familiären Kultur. Fachkräfte haben im Familienrat eine rahmengebende Funktion. Das Kindeswohl zu gewährleisten ist auch hier ihre Kernaufgabe, allerdings bestimmen sie nicht, auf welche Weise dies zu erfolgen hat. Die Koordination unterstützt die Jugendamtssozialarbeiterin in der Formulierung einer gelungenen Sorgeklärung (z. B. Sicherheit eines Kindes in der Familie), die Anlass und Gegenstand der Lösungsüberlegungen sein soll. Zudem überlegt die Koordination gemeinsam mit den Betroffenen, welche weiteren Fachkräfte anwesend sein müssen, um als »Informanten« dem familiären Netzwerk Sachinformationen zur Verfügung zu stellen, die für eine tragfähige Lösung berücksichtigt werden sollten. Der Rat findet in den Räumlichkeiten einer Moschee statt. »Das ist neutral. Ich will ihn nicht hier zu Hause haben«, sagte die Mutter.
Der Familienratstag
Die Jugendamtsmitarbeiterin, die Kinder, Frau Özgür und ihr Mann und ein guter Freund von Ali kommen zusammen. »Er soll so ein bisschen die Moderatorenrolle übernehmen. Der macht das wirklich gut!«, erklärt Frau Özgür. Außerdem ist der Imam der Moschee mit dabei. »Er kennt mich und Herrn Özgür wie auch die Kinder, seitdem wir klein waren!«, sagt die Mutter.
Herr Özgür bringt Tee und Kaffee mit. Es herrscht eine angespannte Stimmung. Die Koordinatorin eröffnet die Runde und weist auf die einzige Grundregel des Familienrats hin, die gerade in dieser Familie sehr wichtig ist: »Es wird nicht über Vergangenes geredet.« Das bedeutet nicht, dass man nicht von vergangenen Ereignissen auf Zukünftiges schließen könne, aber die Regel ist wichtig, um sich nicht in alte Konflikte zu verstricken. Die Teilnehmenden sind still und warten. Die Koordinatorin muss sie direkt ansprechen. Es scheint ein merkwürdiger Unwille in der Luft zu hängen, das Gespräch zu beginnen. Die Jugendamtsmitarbeiterin nutzt eine stille Pause, um ihre Sorge mitzuteilen. »Liebe Familie Özgür, es freut mich