Die Geburt der Eidechse. Werner PosseltЧитать онлайн книгу.
war einfach da, präsentierte sich der jeweiligen Jahreszeit entsprechend, wirkte verträumt und verwunschen. Als Kinder drangen wir manchmal ein, um Kornäpfel zu stehlen, und immer hatten wir dabei das schlechteste Gewissen, fühlten uns beobachtet und fürchteten, erwischt zu werden. Dies geschah aber nie.
Der Wiesengarten hat etwa die Größe zweier Fußballfelder. Einerseits ist er begrenzt durch die alten Stallungen der ehemaligen Wassermühle, linksseitig durch den Stadtpark mittels einer verwilderten Weißdornhecke, rechtsseitig durch einen ziemlich breiten Bach mit hohen Ufern und schließlich ist da noch die stark befahrene Hauptverkehrsstraße, die an dieser Stelle in ihrer Verlängerung zur Chaussee wird und nach H. führt.
Zu dieser Straße war der Garten früher durch einen Drahtzaun begrenzt, der im Laufe der Zeit längst verrostet ist und überflüssig wurde, weil sich an seiner Stelle eine sehr breite natürliche Hecke von selbst angesiedelt hat. Diese ist ebenso undurchdringlich wie die im Märchen vom Dornröschen. Und vor dieser Märchenhecke gibt es, vermutlich als Überbleibsel des Straßenausbaus, einen Erdwall, der sich mutig dem Verkehrslärm entgegenstellt. So wirkt dieser Fleck jetzt wie ein Ort ewigen Friedens, ein Ort, an dem sich Träume gut verbergen können.
Also, diesen Wiesengarten gab es früher schon und zu meinem Erstaunen und zu meiner großen Verwunderung gibt es ihn noch immer. Wäre nicht in den Baumreihen da und dort eine Lücke und wäre nicht, was besonders im Sommer sichtbar wird, der wilde Verwuchs in den Kronen, dann könnte man glauben, fast nichts habe sich über die Jahre verändert. Es ist ein geheimnisvoller Ort geblieben. Doch wo liegt für mich sein eigentliches Geheimnis?
Liegt es vielleicht darin, dass er stets meine Fantasie anregte? Wenn uns Pfarrer Reichwein im Religionsunterricht vom Paradies erzählte, so, als wäre er geradewegs von dorther zurückgekehrt, stellte ich mir stets diesen Garten vor, allerdings noch besiedelt mit tausend verschiedenen Tieren, die sich alle auf wundersame Weise vertrugen. Neben Vögeln und Schmetterlingen sah ich in Wirklichkeit hier nur einmal eine Katze, einen Hasen und einen Rotfuchs. Oder, wenn uns in der Schule am letzten Tag vor den Ferien Märchen vorgelesen wurden, dann wanderten meine Gedanken und Träume hierher und sie trafen das Dornröschen, das Tischleindeckdich, die Goldmarie und auch die Regentrude.
Gärten gab es in dieser Stadt schon immer viele, Kleingärten und Schrebergärten, in denen die Leute, meist Arbeiter und Angestellte, die ihren schweren Dienst in Bitterfeld oder Wolfen verrichteten, nach Feierabend ihren Ausgleich suchten. Mit Liebe, Enthusiasmus und spießerischer Eitelkeit wurden die Parzellen gepflegt, damals wie heute. Lauben, ja ganze Wohnhäuser wurden rechtlich oder widerrechtlich hineingebaut. Für mich blieb diese Art von Gärten reizlos, manchmal in ihrer verkitschten und zwanghaften Ordnung fremd und abstoßend.
Das Areal hinter der alten Wassermühle war mein Gartenideal und ist es bis heute geblieben. Manchmal denke ich darüber nach, welche unterschiedlichen Zeiten und Szenen der Wiesengarten mit Gleichmut überstanden hat: Da waren die Aufmärsche in der Nazizeit mit Fanfaren und Siegheil-Getöse, der Artilleriebeschuss auf die in der Nähe befindliche Zuckerfabrik, dann der Einmarsch der alliierten Befreier, die auf der Chaussee vorrückten, dann die FDJ mit ihren Trommeln und Trompeten, die neue Zeit verkündend, Maidemonstrationen und Fronleichnamsumzüge, wachsender Straßenverkehr und vieles andere mehr. Alles ging an diesem Garten vorüber, von Hecke und Erdwall geschützt, und nun auch noch die ganz neue Zeit. Was wird sie bringen?
Ein wenig bange ich in meinem Restleben um die Existenz dieses Stückchens paradiesischer Erde. Ist nicht alles einer skrupellosen Käuflichkeit unterworfen? Und doch habe ich die Hoffnung, dass dieser Flecken durch seine ganz besondere Lage für fast jede kommerzielle Nutzung ungeeignet erscheint. Vorerst. Die Chance ist real. Und so kann ich mich hoffentlich noch eine Weile an seiner nur ihm eigenen Aura erfreuen.
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