Schicksalspartitur. Markus SaxerЧитать онлайн книгу.
recht laut über belanglose Dinge. Der Jüngling gab sich Mühe, abgebrüht zu klingen, das Mädchen versuchte sich in einem neckischen Ton und verwendete in jedem zweiten Satz das Wort »cool«, was sich auf Dauer ziemlich uncool anhörte.
Matthias beabsichtigte, morgen nochmals zu Hause zu bleiben, aber tags darauf wollte er wieder zur Arbeit fahren, musste er doch nun möglichst rasch zur Normalität zurückfinden, um nicht unnötig Verdacht zu erregen. Er nahm sein Smartphone zur Hand und bemerkte, dass seine jüngere freche Schwester Eva ihm über WhatsApp eine Nachricht übermittelt hatte: Er sei ein mieser Kerl, weil er sich fast nie melde. Wann er endlich mal wieder an einem Wochenende nach Hause käme, um mit ihr ins Kino und zum Essen zu gehen, wie er es ihr doch versprochen habe? Sie habe ihm viel Neues zu berichten und warte auf seine Nachricht. Ach übrigens, Istvan Javor sei vor einer Woche gestorben. Küsschen, Eva.
Matthias lächelte. Er liebte seine Schwester abgöttisch, sie hatten sich immer sehr nahegestanden. Er schrieb ihr sogleich ein paar nette versöhnliche Worte und versprach ihr hoch und heilig, sie bald zu besuchen. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr sein Verfehlen beichten würde?
Im Gegensatz zu ihm war sie ein anständiger und ehrlicher Mensch, gewiss würde sie ihren Bruder für seine Untat verachten …
Die Todesnachricht bezüglich Javor überraschte ihn. Der alte Zauselbart mit Augenbrauen, die Matthias bisweilen an ein Raupenpaar erinnerten, war ungarischer Abstammung und hatte jahrelang im selben Haus in Hamburg direkt unter ihnen gewohnt. Seine Frau hatte sich stets bei den Nachbarn beklagt, dass ihr Mann zur Hypochondrie neige, obschon es ihm gesundheitlich eigentlich gut ginge. Den lieben langen Tag lang jammere Istvan ihr die Ohren voll, was ihm alles fehle, welche Gebresten ihn plagten. Da er zudem ein Geizhals sei, weigere er sich vehement, seinen Hausarzt aufzusuchen, wahrscheinlich bräuchte er sowieso eher einen Seelenklempner, denn seine vielen eingebildeten Leiden würden nur noch übertroffen von seiner panischen Angst vor dem Sterben. Frau Javor pflegte dann jeweils die Augen zu verdrehen und anzufügen, dass er sie mit seiner Art ganz gewiss bald ins Grab bringen würde, womit sie recht behalten sollte, denn nur wenige Wochen, ehe Matthias in die Schweiz übersiedelte, segnete die rechtschaffene alte Dame das Zeitliche.
Kurz danach klingelte Javor mehrfach zu Unzeiten bei der Familie Rentz, um sich vom Sohn und Pflegefachmann Matthias gesundheitliche Ratschläge einzuholen bezüglich seiner Rückenschmerzen und der chronischen Migräne, dem Tremor in der linken Hand und den Magenkrämpfen, der morgendlichen Übelkeit sowie der nächtlichen Unruhe …
Anfänglich spielte Matthias mit, hörte Javor geduldig zu, erteilte ihm Ratschläge, aber irgendwann wurde es ihm zu bunt.
Sobald seine Schwester Eva von einem Sprachaufenthalt aus Paris zurückkehrte, erzählte er ihr davon, und sie versprach ihm mit einem schelmischen Lächeln, sich fortan um den Alten zu kümmern. Sie hatte ihrem Bruder als Souvenir einen mit den Obstgärten von Versailles bemalten Porzellankrug mitgebracht, eine Trouvaille vom Flohmarkt mit den prächtigen alten Bäumen. Eva gefiel offenbar der Gedanke, dass Marie Antoinette vielleicht genau diese Bäume angeschaut hatte.
Als der Witwer eines Abends erneut bei ihnen klingelte, öffnete Eva ihm die Tür. Javor fragte nach Matthias; Eva sagte, er sei nicht zu Hause. Sie habe von ihrem Bruder gehört, es ginge ihm, Javor, gesundheitlich nicht gut. Ob er ihr davon erzählen wolle? Sie stecke mitten in einem Medizinstudium und würde ihm gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen (tatsächlich arbeitete Eva als Sekretärin bei einem renommierten Treuhandunternehmen am Jungfernstieg in Hamburg).
Erfreut nahm er ihr Angebot an und folgte ihr ins Zimmer, wo er sich erwartungsvoll auf dem angebotenen Stuhl niederließ. Sie lächelte und ermunterte ihn, ihr von seinem Befinden zu erzählen.
»Tja, was soll ich sagen, wo soll ich anfangen, Frau Doktor? Da sind diese furchtbaren Kopfschmerzen, die mich heimsuchen, gefolgt von einem Zittern in der linken Hand und Juckreiz im rechten Fuß (…)«
Eva ließ den Redeschwall über sich ergehen, gab sich interessiert und nickte ernst. Als er verstummte und sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn trocknete, sagte sie: »Strecken Sie die Zunge raus.«
Javor tat es. Als Eva seine Zunge inspiziert hatte, kniff sie die Augen zusammen.
»Tja, nun, sieht es schlimm aus?« Der Alte zupfte sich am Bart und stierte sie an.
»Das synchrone Auftreten der geschilderten Symptome ist gewiss kein gutes Zeichen. Und Ihr Zungenbelag gefällt mir gar nicht.«
»Brauche ich Medikamente?«
»Allerdings. Warten Sie einen Moment.«
Sie ging aus dem Zimmer und kehrte wenig später mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück, und er schluckte die Medizin bereitwillig. Nun fühlte sie seinen Puls und blickte dabei auf ihre Armbanduhr. Danach sah sie ihm mit der Miene eines Leichenbestatters in die Augen.
»Ich muss doch noch nicht sterben, nicht wahr?«
Sie zuckte die Achseln. »Wir müssen alle sterben.«
»Gewiss, aber … noch nicht bald?«
»Sehen Sie, der Vater eines mir Bekannten hatte die gleichen Symptome wie Sie. Wenige Wochen später wurde er eingeäschert.«
»Um Gottes willen!« Javor wurde leichenblass und bekreuzigte sich. Erregt erhob er sich vom Stuhl, auf seinem Hals zeichneten sich rote Flecken ab.
»Ruhig Blut, Javor!« Eva war ebenfalls aufgestanden. Sie nahm ihn beim Ellbogen und führte ihn behutsam zur Haustür, und ehe sie ihn hinauskomplimentierte, erteilte sie ihm noch gesundheitliche Ratschläge.
Als Eva die Tür abgeschlossen hatte und ins Zimmer zurückkehrte, wartete Matthias bereits auf sie. Er hatte im Nebenraum gelauscht und lehnte mit verschränkten Armen schmunzelnd am Türrahmen.
»Und, was sagst du?«, fragte sie.
Er fasste sie mit beiden Händen an der Schulter, berührte mit den Lippen ihren Scheitel und nuschelte ihr ins Haar, das nach Apfel roch: »Du bist eine elende Quacksalberin, Schwesterherz. Eine von der übelsten Sorte.«
»›Frau Doktor‹, wenn ich bitten darf!« Sie knuffte ihn gegen die Schulter.
Matthias grinste amüsiert. »Was hast du dem Armen für eine Pille gegeben?«
»Na ja, eigentlich wollte ich ihm eine Kopfschmerztablette verabreichen. Doch die waren alle.«
»Und dann?«
»Da habe ich ihm eine meiner Antibabypillen gegeben.«
Er legte den Kopf schief und musterte sie eindringlich.
»Du verarschst mich doch.«
»Pas du tout! Warum sollte ich?«
»Du bist unglaublich … Aber das warst du schon immer.«
»Danke. Ich war auch schon immer eine gute Schauspielerin, nicht wahr?«
Er nickte sinnierend. »Ich kann mich noch gut an jene Schulaufführung erinnern, in der du die Hauptrolle der Gaia im Stück ›Mutter Erde‹ gespielt hast. Du hattest so ein wunderbares Kleid an, voller Blüten und Blätter, und dein Gesicht war ganz grün geschminkt. Fast wie Poison Ivy in ›Batman‹, nur netter und nicht so giftig.«
Den Blick leicht gesenkt, lächelte sie versonnen vor sich hin und strich sich mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren.
»Ich saß in der vordersten Reihe und war so mächtig stolz auf dich. Auf deine starke Bühnenpräsenz und die Art und Weise, wie du deine Texte makellos vorgetragen hast, und wie du sofort improvisiert hast, wenn einer der Jungs seinen Einsatz verpasste oder sich verquasselte und nicht mehr weiterwusste … Am Ende beteten deine Schulkameraden dich an und lagen dir praktisch zu Füßen, und der Applaus wollte kein Ende nehmen.
Ich hab mir die Hände wundgeklatscht, und Oma neben mir nahm sich die Brille ab und wischte sich Tränen aus den Augen …«
Der Kellner holte Matthias in die Gegenwart zurück, indem er ganz in seiner Nähe demonstrativ und