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Der fette Blinde. Jürgen DümchenЧитать онлайн книгу.

Der fette Blinde - Jürgen Dümchen


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eines Observatoriums in der Atacama Wüste in Chile ein, wo er sonst, oft bis früh in den Morgen, durch ein gemietetes Teleskop das etwa 200 Lichtjahre entfernte Sternbild des Kranich betrachtete. Seine besondere Aufmerksamkeit galt hier stets dem sich um einen gemeinsamen Schwerpunkt bewegenden Doppelsternsystem mit Namen πGruis – δ1 und δ2 Gruis, die nur vortäuschten, Doppelsterne zu sein, in Wirklichkeit aber Lichtjahre voneinander entfernt waren, beobachtete er seltener, an Al Dhanab, einem weiteren Stern des Kranich, hatte er mit der Zeit das Interesse vollständig verloren.

      Sein Schlaf in dieser Nacht war entspannt und traumlos.

      Der erste Gedanke nach dem Aufwachen galt ihr. Seine Stimmung war sogleich gehoben, das kannte er nicht von sich.

      Er frühstückte nie, ging also auch an diesem Morgen sofort zu seinem Auto. Dort, auf der Rücksitzbank, saß sie – er lächelte ihr zu. Im Radio spielten sie einen alten Frank-Sinatra-Song – er war unsicher, ob ihr diese Musik gefiel.

      Beim Aussteigen sah er nur flüchtig nach hinten, ging dann rasch über den noch leeren Parkplatz in sein Büro.

      Der Ortsvorsteher von Mahlow begann seinen Dienst.

      Er verrichtete die unbedingt notwendigen Arbeiten, aber auch nicht mehr, nutzte jede Gelegenheit, um allein in seinem Büro vor sich hin zu träumen, also an das Mädchen zu denken, ihr Bild vor sich lebendig werden zu lassen: Dieser fragende Blick, diese Verlorenheit.

      Sehr pünktlich beendete er seinen Arbeitstag, ging zum Wagen, sah nach dem Einsteigen sofort wieder zur hinteren Sitzbank.

      So ging es mehrere Tage, der Dienst nervte ihn zunehmend, vermeintlich wichtige Besprechungen trieben ihn gegen seinen Willen häufiger aus dem Büro.

      An einem der Abende fuhr er nach Dienstschluss nicht direkt nach Hause, das Wetter war weiter frühsommerlich warm, die Sonne schien freundlich-mild und am Himmel häuften sich gerade genug Wolken, um der entspannten Atmosphäre eine vorteilhafte lebendige Dynamik hinzuzufügen.

      Er fuhr zum Rangsdorfer See, vorbei an Sanssouci en miniature, das er reizend fand, und dann langsam wieder zurück. Das Seitenfenster und das Schiebedach machten den Fahrtwind spürbar, ihr langes blondes, gewelltes Haar flatterte um sie herum. Er hatte einen Sender eingestellt, der Popmusik spielte.

      Am nächsten Tag war es abends dann doch etwas kühler und er hatte das Schiebedach geschlossen, auch das Seitenfenster war nur ein wenig geöffnet. Die Fahrt nach Hause zog sich hin – aufgrund eines Staus ging es lange Zeit nicht vor und nicht zurück. Dies gab dem Ortsvorsteher von Mahlow viel Zeit, das Mädchen nicht nur im Spiegel, sondern auch durch kurzes Umwenden immer wieder etwas länger anzuschauen.

      Jetzt konnte er auch die Puppe genauer erkennen, die sie abwechselnd mit ihren Händen streichelte oder an die Brust drückte. Die Puppe hatte rote Haare, die zu einem Haarkranz geflochten waren, darin steckten winzige, aber echte Blumen. Das Gesicht war nur stilisiert dargestellt, es war ja eine Stoffpuppe, ein Lächeln war nicht erkennbar. Ein langes, fast durchsichtiges Kleidchen aus matt schimmernder, weißer Seide bedeckte den Körper. Beine hatte die Puppe keine, er meinte aber zu erkennen, dass dies einmal anders gewesen sein mochte.

      Am nächsten Tag musste er selbst im Amt einen Vortrag halten, die sehr umstrittene Kreisreform in Brandenburg war sein Thema. Er versuchte sachlich die Situation darzustellen, war aber unkonzentriert und musste seinen Vortrag – er sprach wie immer frei – mehrmals spontan abändern, was den Zuhörern nicht als Störung auffiel, ihnen vielmehr als kreativ anmutete.

      Das Bild des Mädchens hatte sich immer wieder in seine Wahrnehmung geschoben – tat dies auch in den nächsten Tagen mehr und mehr, wobei er nur schwer, aber eigentlich gar nicht mehr unterscheiden konnte, ob er einfach ihr Bild vor Augen hatte oder es nur der Gedanke an sie war – oder beides.

      Nach dem Vortrag verließ er das Amt etwas früher als sonst, nannte den Besuch bei einem Arzt als Grund. Das stimmte – es handelte sich allerdings um einen Termin bei einem Psychiater. Der hatte seine Praxis in Charlottenburg.

      Er hatte ihm vor längerer Zeit Antidepressiva verschrieben, hatte gemeint, die den Ortsvorsteher quälenden Gedanken an Alter und Tod, aber auch dessen Infragestellung seiner doch höchst erfolgreichen beruflichen Tätigkeit seien typische Zeichen einer depressiven Verstimmung, wie sie gerade bei Männern im mittleren Lebensalter gar nicht so selten sei, er solle einfach auf die moderne Medizin vertrauen, dann werde er bald wieder ganz der Alte sein!

      Der Ortsvorsteher hatte sich gefragt, was das wohl bedeutete, hatte aber gegen die Medikation keinen Einwand erhoben.

      Der Psychiater, ein noch recht junger, ziemlich kleiner Mann mit einer auffallend hohen Stimme, begrüßte ihn auch heute wieder mit viel Freundlichkeit, gepaart mit einer optimistischen und selbstbewussten Ausstrahlung, um die ihn der Ortsvorsteher beneidete.

      Aber auch er selbst war ja heute ausgesprochen guter Dinge, strahlte zumindest große Zufriedenheit aus, lächelte und betonte, wie gut es ihm ginge – ihr Haar hatte wieder wild im Fahrtwind geflattert und die Geste, mit der sie dann, stets mit nur kurzem Erfolg, versucht hatte, es glattzustreichen, es mit ihrer Haarspange in eine Ordnung zu zwingen, war voller Zärtlichkeit gewesen.

      Er hütete sich, diesen eigentlichen Grund seines Wohlbefindens gegenüber dem Psychiater auch nur ansatzweise zu erwähnen.

      Die Antidepressiva hätten wohl, meinte der Arzt, wie nicht anders zu erwarten, eine sehr positive Wirkung entfaltet, er solle sie noch eine Weile einnehmen – und dann wäre das Leben wieder schön!

      Auf der Fahrt zurück nach Mahlow war der Fahrtwind wieder voll Verständnis und Zuwendung. Im Radio lief immer noch Popmusik.

      Der Ortvorsteher war glücklich.

      Am nächsten Morgen meldete er sich in seiner Dienststelle krank, ein plötzliches Unwohlsein, wahrscheinlich nichts Ernstes, ließ er noch mitteilen.

      Dann eilte er zum Auto. Ein kurzer, freudiger Blick auf den Rücksitz, das Fenster heruntergekurbelt, das Schiebedach geöffnet und schon war er auf dem Weg in den Südosten Brandenburgs, genauer in die Oberlausitz, nach Muskau – und noch genauer: Zum Schloss und Park des Fürsten Pückler.

      Er mied die Autobahn, fuhr über die B179 und die B168, das dauerte deutlich länger, was ihn aber nicht störte, er hatte es nicht eilig. Zeit war ihm nur noch wichtig, wenn es darum ging, ihr nahe zu sein, in ihr Gesicht zu schauen, ihr Hantieren mit dem widerspenstigen Haar und der golden schimmernden Haarspange zu beobachten.

      Die Parklandschaft beeindruckte ihn wie schon bei früheren Besuchen: Alles wirkte natürlich und war als Idee doch künstlich – perfekt naturalisierte Phantasie gleichsam.

      Auf der Rückfahrt hielt sie ihre Puppe ein wenig in die Höhe, als wollte sie es ihr ermöglichen, mehr von der Landschaft wahrzunehmen.

      Es gab kaum Verkehr auf der Bundesstraße, und so hatte der Ortsvorsteher von Mahlow viel Zeit, ihr schmales Gesicht noch ausführlicher im Spiegel zu betrachten, bemerkte erst jetzt eine geringe Fehlstellung der oberen Schneidezähne, die gut zu erkennen war, da sie ihren Mund jetzt leicht geöffnet hielt, als wollte sie ihm flüsternd etwas mitteilen. Ihre weichen Lippen wirkten auf ihn, als seien sie mit einem Lippenstift diskret nachgezogen worden.

      Eine von Linden fast völlig überdachte Allee, ihr Gesicht im Spiegel verbunden mit dem warmen Licht der Abendsonne weckte eine Ahnung des Vollkommenen im Ortsvorsteher.

      In den nächsten Tagen ging es weiter nach Branitz, dann nach Rheinsberg, auch ein Besuch in Chorin und Kloster Lehnin folgte – wo immer möglich über kleinere Straßen.

      Ihr wehendes Haar im Wind, die Bewegung ihrer Hand zur Haarspange, die damit verbundene Neigung ihres Kopfes – nur darum ging es.

      Das Antidepressivum hatte er abgesetzt, sein Schlaf war trotzdem gut und tief, aber traumlos, was er seltsam fand, da er früher jemand gewesen war, der jede Nacht viel geträumt hatte.

      „Früher“ – das beschrieb die Zeit vor ihrer Ankunft. Er bezweifelte, dass es diese Zeit überhaupt einmal gegeben hatte.

      Tagsüber


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