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Steirische Lausbubengeschichten. Martin EichtingerЧитать онлайн книгу.

Steirische Lausbubengeschichten - Martin Eichtinger


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Alle vier träumten wir davon, nach Kanada zu reisen. Kanada war für uns der Inbegriff der Freiheit, seine großen Weiten, seine grenzenlose Natur. Besonders beeindruckte uns, dass wir davon gehört hatten, dass in den Northwest Territories jeder Siedler einen Quadratkilometer Land sein Eigen nennen konnte, sobald er eine Behausung (Blockhütte) erbaute und diese mehr als die Hälfte des Jahres bewohnte.

      Wir begannen mit dem Studium des Überlebenstrainings für die Wildnis Kanadas, und „Überlistete Wildnis“von Hans-Otto Meissner war unsere Lieblingslektüre.

      In Weitersfeld konnten wir unseren Kanada-Traum mitten in Österreich leben, denn in den damals noch weitgehend unberührten Murauen zwischen Spielfeld und Mureck gab es keine Einschränkung für unsere Trapper-Abenteuer.

      Wie könnte man als Sohn eines Fischers nicht vom Reiz des Fischens angesteckt werden? Fischen, Baum- und Erdhütten bauen, Lagerfeuer auf Schotterbänken, nächtliche Wanderungen, Radfahren, auf Bäumen über Bäche klettern, Woazbrat’n, Maronibraten, Eislaufen und Eishockeyspielen auf zugefrorenen Bächen, Bootfahren, Schwimmen, sich mit Karte und Kompass Orientieren: Weitersfeld bot dies alles und noch viel mehr. Langweilig wurde uns auch nach Wochen nicht. Der Katzenjammer vor dem September-Schulbeginn war immer groß.

      Wenn man aus unserem Haus hinaustrat und nach links hundert Meter über die Mühlgangbrücke ging, stand man vor einer Weggabelung. Man musste sich entscheiden, ob man nach links Richtung Mureck und zur alten Überfuhr oder rechts zur Überfuhr, also zur Rollfähre über die Mur, ging.

      Geradeaus konnte man durch die Bäume das andere Murufer erkennen. Über den Bäumen sah man die Schlote der Papierfabrik in Sladkih Vrh. Wendete man sich nach links, so fuhr oder ging man auf einem Feldweg neben einem langen Feld, das Frau Počič gehörte, ehe man wieder eine Weggabelung erreichte. Ein Weg führte hinaus an die Mur zur „Alten Überfuhr“. Hier hatte bis Anfang der Sechzigerjahre die Rollfähre über die Mur den Übergang nach Slowenien für die Bevölkerung von Weitersfeld sichergestellt. Neben einer zweiten Rollfähre weiter westlich zwischen Lichendorf und Ceršak gab es Murbrücken in Spielfeld (ungefähr 7 Kilometer westlich) und in Mureck (ungefähr 5 Kilometer östlich).

      Die Landestelle war direkt neben den Fabriksgebäuden gewesen, doch wegen der Ausdehnung des Fabriksgeländes wurde die Fähre versetzt und die Fährstation einen Kilometer weiter flussaufwärts verlegt.

      Bog man nicht nach rechts zur Mur ab, sondern fuhr geradeaus in den Wald, so gelangte man vorbei an einem Altwassersee zu einem Wehr des Mühlgangs und einem darunterliegenden Staubecken (dem „Tumpf“), dem Herzstück unseres Abenteuerreiches.

      Folgte man nach der Mühlgangbrücke der Schotterstraße nach rechts, so gelangte man entlang des Mühlgangs, vorbei an einem Betonmäuerl und nach der Abzweigung zur Riesel, dem besten Fischplatz an der Mur, zur „Überfuhr“, der neuen Anlegestelle der Rollfähre nach Jugoslawien.

      Schon damals faszinierte mich der Gedanke, dass auf der anderen Seite der Mur Ausland war. Die Erzählungen der Dorfbevölkerung über Slowenien waren stets kritisch, hatten doch viele Familien und Vorfahren die ehemalige Untersteiermark unter Zwang verlassen müssen und fast alles verloren. Wenige Bauern aus dem Dorf besaßen noch landwirtschaftliche Güter in Jugoslawien. Die Rollfähre, die entweder ein Auto, einen Traktor mit Anhänger oder ein Pferdefuhrwerk über die Mur bringen konnte, machte es möglich, diese verbliebenen Gründstücke zu bewirtschaften. Das war auch der eigentliche Zweck der Fähre. Der Grenzübergang war nur für Einheimische geöffnet und konnte nur mit einem speziellen Grenzübertrittsschein benützt werden. Dieses kleine graue Büchlein, in dem jeder Übertritt penibel vermerkt und abgestempelt wurde, erhielt man nur nach zehnjähriger Ortsansässigkeit. Wie stolz waren mein Bruder und ich, als wir unseren eigenen Grenzübertrittsschein erhielten, da wir seit der Geburt in Weitersfeld als Zweitwohnsitz gemeldet waren.

      Die Rollfähre bestand aus zwei Eisenpontons, die mit einer floßartigen Holzplattform überbaut waren. Auf der Plattform gab es für die kurze Zeit der Überfahrt Sitzbänke. Flussaufwärts war die Fähre mit einem Stahlseil und einer Laufrolle an einem mehrere Meter über der Mur gespannten Führungsseil befestigt. Flussabwärts war am Ende eines langen Holzstammes ein Ruderblatt befestigt, welches der Flößer hin und her bewegte, um die Fähre in die Strömung zu drehen und am anderen Ufer anzulegen.

      Der Betrieb der Fähre oblag den Jugoslawen. Der Fährmann war daher immer ein Jugoslawe, der aber natürlich Deutsch sprach. Er erhielt das Fährgeld und wahrscheinlich auch immer ein Trinkgeld.

      Durch das wiederkehrende Hochwasser der Mur hat sich die Fähre oft losgerissen. Einmal trieb sie bis Bad Radkersburg, ein anderes Mal lief sie in Mureck auf Grund und die Eisenpontons mussten mit großer Mühe geborgen werden. Die Anlegestellen wurden mit einem mühselig zu bedienenden Kettensystem jeweils dem Wasserstand der Mur angepasst, damit man mit Fahrzeugen auf die Fähre fahren konnte.

      All diese Mühe wurde aber von der lokalen Bevölkerung gerne in Kauf genommen, bildete doch die Fähre eine Lücke im Eisernen Vorhang, der zwischen dem sozialistischen Jugoslawien und dem neutralen Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg bestand. Die stark bewachte Grenze bedeutete für den Süden der Steiermark, dass man wirtschaftlich und handelsmäßig am Ende einer Sackgasse und somit in einer toten Zone lebte.

      Oberhalb der Überfuhr, an der Grenze zur Gemeinde Lichendorf, gab es in der Mur, die hier 100 bis 120 Meter breit war, ein Wehr, bei dem auf jugoslawischer Seite ein Mühlgang für die Papierfabrik abgezweigt wurde. Dieses Wehr spielt im nächsten Kapitel eine große Rolle.

      Ein fernes Donnern kündigte es an. Unsere große Wiese vor dem Haus, die der Seppl-Bauer im Dorf alle paar Jahre in einen Maisacker oder ein Kürbisfeld verwandelte, öffnete sich nach Westen. Im Sommer war es unser „Wettereck“, das heißt, dass Schlechtwetter immer von dort kam. Verfinsterte sich der Himmel „beim General“ – seine großen Besitzungen lagen in Richtung Lichendorf, dem nächsten Ort –, so konnte man sicher sein, dass das Gewitter, manches Mal auch ein Unwetter mit Hagel, zu uns kam.

      Das Donnergrollen rührte von der Mur her: Am anderen Ufer der Mur, fast genau gegenüber von unserem Haus, lag die Papierfabrik Paloma in Sladki Vrh, oder wie es früher einmal geheißen hatte: Süßenberg. Die Maschinen der Fabrik erzeugten stets ein gleich bleibendes Rauschen, das man aber nach wenigen Stunden des Aufenthaltes in Weitersfeld an der Mur nicht mehr hörte. Nachts erhellten hunderte Lichter der Fabrik den Himmel. Nur zum Nationalfeiertag und zum Jahreswechsel gab es Tage, an denen in der Fabrik die Maschinen still standen, ansonsten liefen sie rund um die Uhr und verbreiteten ihr ständiges Geräusch.

      Zur Fabrik gehörte weit flussaufwärts, an der Grenze zu Lichendorf, ein Wehr. Sein Betrieb war sogar schon im Vertrag von St. Germain im Jahre 1919, der nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen des heutigen Österreich bestimmte, festgeschrieben worden. Es diente dazu, aus den Fluten der Mur einen kleinen, bedächtig fließenden Mühlgang abzuzweigen, der aber kräftig genug war, die Turbinen für die Fabrik anzutreiben und damit die Stromversorgung des Werkes sicherzustellen.

      Über die Jahre waren die Schleusen des Wehrs eingerostet, die im Bedarfsfall ein Überlaufgerinne für ein Hochwasser freigeben sollten. Niemand war an einer Wartung interessiert. Wichtig war nur, anstürmenden Wassermassen den Zufluss zum Werk zu verweigern, um Schaden von den Maschinen abzuhalten.

      So war es auch in jenem denkwürdigen Jahr 1970, in dem unser Garten nicht weniger als sieben Mal überschwemmt wurde. Dabei trat die Mur beim Wehr auf der österreichischen Seite aus den Ufern und eine graubraune Brühe ergoß sich, immer schneller werdend, über die Äcker und durch die Auenwälder. Am Horizont sahen wir es kommen, das Verwüstung bringende Wasser, und bald erreichte es, geifernd, schäumend, kochend die große Wiese vor unserem Haus.

      Für Vater brach jedes Mal fast eine Welt zusammen. Er hatte viel Geld und Mühe in einen kleinen, aber sehr gepflegten Garten investiert und eine schöne Sammlung


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