Ruanda. Gerd HankelЧитать онлайн книгу.
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Teil I
Erste Eindrücke, ein kurzer Rückblick und beginnende Reflexionen über die Fragwürdigkeit von Begriffen (im Jahr 2002)
Acht Jahre nach dem Völkermord sind die Spuren der Verbrechen noch allgegenwärtig. Auffallend ist allerdings, wie geteilt die Erinnerung ist. Allen Ruanderinnen und Ruandern gemeinsam ist die Hoffnung, dass ihnen durch die bevorstehende systematische justizielle Aufarbeitung der vergangenen Verbrechen Gerechtigkeit widerfahren wird. Die Hoffnung macht sich vor allem an der traditionellen Gacaca-Justiz fest, die in erster Linie nicht der Bestrafung der Täter, sondern der Wiederherstellung des Friedens innerhalb einer sozialen Gemeinschaft verpflichtet ist. Schon deshalb scheint sie vor dem Hintergrund bereits bekannter Wege, sich mit Massenverbrechen zu beschäftigen, einer besonderen Aufmerksamkeit wert. Hinzu kommt, dass Gacaca in Ruanda als eine Form der Justiz gilt, die der internationalen in Gestalt des Gerichtshofs in Arusha weit überlegen ist. Dort, wo die Verbrechen begangen wurden, sollen sie verhandelt werden, nicht fernab in einer anderen, verständnislosen Welt.
1. Der allgegenwärtige Völkermord und das normale Leben
Am Anfang, im Frühsommer des Jahres 2002, stehen Fragen, Fragen wie: Ist das ein Völkermörder? Wo war wohl diese Frau zur Zeit des Völkermords? Stammt die tiefe Narbe von einem Machetenhieb? Wer ist überhaupt ein Hutu, wer ein Tutsi? Dann, nach einigen Wochen, folgt Verwunderung. Verwunderung darüber, dass das Leben augenscheinlich seinen ganz normalen Gang geht. Menschen unterhalten sich, lachen und gehen ihrer Beschäftigung nach. Dass hier in diesem Land, oft als Idylle aus tausend Hügeln bezeichnet, vor beinahe genau acht Jahren ein Völkermord stattgefunden hat, vor aller Augen und mit Hunderttausenden von Toten, scheint undenkbar.
Natürlich sind dergleichen Fragen und Reaktionen naiv. Kein Verbrechen ist so groß, dass es noch nach Jahren dem zufälligen Blick erkenntlich wird. Kein Schmerz ist so präsent, dass er sich fortwährend auch dem Unbeteiligten gegenüber äußert. Keine Idylle so perfekt, dass dort nicht auch Abgründiges vorstellbar wäre. Und trotzdem. Es gibt Erinnerungen, die sich an Bildern und Eindrücken festmachen und darum stärker sind als der Naivitätseinwand. Da ist die Szene, aus der Distanz gefilmt und etliche Male gezeigt, von den zwei Männern, die auf einer rötlich schimmernden unbefestigten Straße Tutsi töten. Mit Wucht schlagen sie mit ihren Macheten auf menschliche Körper ein, einmal, zweimal, dreimal, bis diese hingestreckt und zu keiner Bewegung mehr fähig sind. Da ist das Buch von Philip Gourevitch mit dem verstörenden Titel »Wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden«, in dem in verschiedenen Episoden von der kalten Brutalität der Mörder und der Ausweglosigkeit der Situation derer berichtet wird, die von Hutu-Tätern für den Tod bestimmt waren. Und da sind schließlich noch die vielen Szenen, die für die Gleichgültigkeit stehen, mit der die Welt im Frühjahr 1994 auf das Geschehen in Ruanda geblickt hat: Um Hilfe flehende Frauen, Kinder und Männer, die ihrem Schicksal überlassen werden. Von UN-Soldaten gerettet werden nur Menschen mit heller Hautfarbe, Einheimische bleiben zurück, ja werden sogar gewaltsam zurückgestoßen und, woran für alle Beteiligten nicht der geringste Zweifel bestehen konnte, den in Sichtweite wartenden Killern zur Ermordung freigegeben. Es handle sich um eine rein innerruandische Angelegenheit, in die sich einzumischen nicht angeraten sei, hieß es damals.
Jetzt, im Frühsommer 2002, kommt der Besucher, auf dem Flughafen der Hauptstadt Kigali gelandet, in ein Land, das sich ganz entschieden der Zukunft zugewandt hat. Schon im Flughafengebäude künden große Bildtafeln von den Schönheiten des Landes. Endlose Hügellandschaften, terrassenförmig angelegte Felder, ein Sonnenuntergang am Kivusee, freilebende Gorillas in den Ausläufern der Virunga-Kette, jener Reihe von fünf Vulkanen, die die Grenze zu Uganda und zum Kongo bilden.
Über eine mäßig befahrene zweispurige Straße geht es Richtung Stadtzentrum. An ihren Rändern stehen Werbetafeln der einheimischen Kaffee- und Teeindustrie, auf anderen versprechen Telefonnetzbetreiber landesweit einen lückenlosen Empfang oder kündigt eine internationale Hotelgruppe die baldige Eröffnung eines Kongresszentrums an. Vorbei an dem Parlamentsgebäude, das nunmehr das Übergangsparlament beherbergt und noch deutlich sichtbare Spuren eines Granatenbeschusses zeigt, und vorbei an einer Reihe von Geschäften, kleineren Dienstleistungsunternehmen und Büros, die das Kigali Business Center ausmachen, kommt der Kleinbus nach Kiovu, einem zentral gelegenen Stadtteil, der von der Einfallstraße in zwei Hälften getrennt wird. Rechts, in Kiovu des pauvres, lebten die Armen, links, in Kiovu des riches, die Reichen und Diplomaten, erklärt mir der Beifahrer auf Französisch. Er ist es auch, der den Bus gezielt zum Hôtel des Mille Collines dirigiert. Am französischen Kulturzentrum vom Kreisverkehr rechts ab, einer ansteigenden Straße folgend, erscheint es nach gut 200 Metern auf der rechten Seite. Das Hotel, das zum Symbol der Hoffnung inmitten des Völkermords geworden ist. Während ringsumher die Menschen zu Zehntausenden getötet wurden, war es Zufluchtstätte für mehr als eintausend Tutsi, die dort dank der UN-Präsenz, vor allem aber dank des Verhandlungsgeschicks des Hotelgeschäftsführers, einem Hutu mit guten Verbindungen zu den politischen und militärischen Drahtziehern des Völkermordes, alle überlebten.
Viel hat sich seitdem augenscheinlich nicht im Hotel verändert. Der Pool, der damals die Flüchtlinge mit Wasser versorgte, ist noch vorhanden, wenn auch die Farbe an vielen Stellen abblättert und der Beton Risse hat. Auch die große Akazie, unter der, so heißt es, einige Völkermordopfer begraben sein sollen, steht noch im Garten. Die Zimmer wirken zwar, als müssten sie bald renoviert werden, aber zusammen mit dem Restaurant in der vierten Etage, das einen Panorama-Blick auf die Hügel von Kigali bietet, vermitteln sie durchaus noch eine Vorstellung von vergangenen Zeiten, als das Mille Collines das erste Hotel Ruandas war.
An der Rezeption kümmert sich Zozo, der Kleine, wie der Beifahrer aus dem Kleinbus in Anspielung auf seine geringe Körpergröße genannt wird, um Gepäck und Anmeldung. Er besorgt auch den Geldwechsel und den Fahrer, der mich am nächsten Morgen nach Ntarama und Nyamata bringen soll, zwei Gedenkstätten des Völkermords, die von Touristen gewöhnlich aufgesucht würden, wie mir Zozo versichert. Beide liegen etwa eine Fahrstunde von Kigali entfernt in südlicher Richtung, und beide lassen ein beklemmend-anschauliches Bild entstehen von dem, was sich hinter dem Wort »Völkermord« verbirgt. Übertroffen auf der Skala des Schreckens werden sie nur noch durch das, was ich wenige Tage später in der Gedenkstätte Murambi, knapp 100 Kilometer weiter westlich, sehen und, vielleicht noch schlimmer, riechen sollte.
Etwa 5000 Menschen wurden laut Informationstafel auf dem Gelände der Kirche von Ntarama und in der Kirche selbst getötet, 45 000 sollen es an und in der Kirche von Nyamata gewesen sein. Die vermeintlich sicheren Refugien waren zur tödlichen Falle geworden, dort wie an vielen anderen Orten in Ruanda. In Ntarama sieht das Kircheninnere aus, als habe das Morden erst vor Kurzem stattgefunden. Der Boden im Gang und zwischen den Bänken ist bedeckt von einer makabren Mischung aus menschlichen Knochen, Kleidungsresten, Töpfen und Tellern und halbzerrissenen Gebetbüchern oder religiösen Heften. Handtaschen und aufgerissene Koffer, aus denen die Habseligkeiten der in Panik geflüchteten Tutsi quellen, liegen umher. Auch ein populärwissenschaftliches Lexikon gehört offensichtlich zu den Schätzen, die gerettet werden sollten, ebenso wie ein Buch, das just an der Stelle aufgeschlagen ist, wo ein weißes und ein schwarzes Mädchen schwesterliche Eintracht demonstrieren. Jetzt wirkt es nur noch wie ein naiver und völlig deplazierter Appell zur Überwindung rassischer Vorbehalte. Gebeine und Totenschädel, die an den Wänden und in den Ecken aufgehäuft wurden, warten darauf, in Säcke gefüllt und dann, nach einer Zwischenlagerung in einem Nebenraum, in dem bereits etliche Säcke stehen, zur Reinigung gebracht zu werden. Zuständig dafür sind eine Frau und ein Mann, beide, wie sie sagen, Überlebende des Massakers vom 15. April 1994. Schon seit Jahren arbeiten sie auf dem Kirchengelände, am Anfang, um Beweise zu sichern, jetzt, um die Erinnerung wachzuhalten. Sie sitzen vor zwei mit einer Lauge gefüllten Eimern, in die sie die Schädel und Knochen eintauchen, um sie danach mit einer Bürste zu bearbeiten. Eintauchen, abschrubben, eintauchen, abschrubben, der Ablauf sitzt, als handele es sich um Karotten. Die gereinigten Schädel und Knochen werden in einer Art Schuppen aus Holz mit vielen, die Luftzirkulation sichernden Spalten in den Wänden gelagert oder, genauer gesagt,