Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon FlaigЧитать онлайн книгу.
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EGON FLAIG
Die Niederlage der politischen Vernunft
Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen
Egon Flaig,
geboren 1949, lebt in Berlin.
Er lehrte als Professor für Alte Geschichte an den Universitäten Greifswald und Rostock. Gastprofessuren führten ihn ans Collège de France, die Sorbonne und an die Universität Konstanz. Von 2003 bis 2004 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und von 2009 bis 2010 Stipendiat des Historischen Kollegs München. 1996 wurde ihm der Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg-Stiftung verliehen. Zuletzt sind von ihm erschienen »Weltgeschichte der Sklaverei« (2009), »Die Mehrheitsentscheidung« (2013) und bei zu Klampen »Gegen den Strom.
Für eine säkulare Republik Europa« (2013).
Inhalt
Vorwort: Drei grenzenlose Aussagen
I. Die politische Vernunft vor ihrem höchsten Zweck
II. Die dreifach negierte Aufklärung
III. Faschistoider ›Antikolonialismus‹ – Frantz Fanon
IV. Heiliger Ausbruch aus dem Universalismus – Michel Foucault
V. ›Recognition‹ – eine moralisch gerechtfertigte Apartheid
VI. Die Wahrheit unterm Stiefel der Antidiskriminierung
VII. Gedächtnispolitik – die »Therapie durch die Lüge«
VIII. Die Kritische Theorie und die Abdankung der Republik
IX. Rechtlich betriebene Auflösung des Politischen
X. ›Unpolitik‹ – zum Verhältnis von Wahrheit und Öffentlichkeit
XI. Ohne Feindschaft keine Werte – ohne Rückbesinnung keine Aufklärung
Schlußbemerkung: Freiheit und Dankbarkeit
Für Achim und seine Generation
»People will not look foreward to posterity, who never look backward to their ancestors.«
Edmund Burke
»Die größte Gefahr in der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus, sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.«
Hannah Arendt
»Jede Generation glaubt zweifellos dafür geweiht zu sein, die Welt umzuschaffen. Die meinige jedoch weiß, daß sie sie nicht umschafft. Aber ihre Aufgabe ist vielleicht größer. Sie besteht darin, zu verhindern, daß die Welt zerfällt.«
Albert Camus
Vorwort: Drei grenzenlose Aussagen
»Das sind keine Menschen, das sind Verbrecher!« So urteilte der sächsische Ministerpräsident Tillich am 23. Februar 2016 über Bewohner eines Dorfes, die einen Bus von Migranten blockiert hatten. »Es gibt keine Obergrenzen!«, so verlautbarte die Kanzlerin Angela Merkel monatelang, um deregulierte Migration nach Deutschland zu rechtfertigen. Und Martin Schulz appellierte auf dem SPD-Parteitag am 10. Dezember 2015: »Für den Sieg des Bösen reicht es, daß die Guten nichts tun.« Diese drei Aussagen markieren die Fluchtpunkte einer Weltsicht, die beansprucht, als einzige diskursfähig zu sein. Sie hängen miteinander zusammen und beruhen auf gemeinsamen Axiomen.
»Das sind keine Menschen.« Wie ist es möglich, Bürgern, die zivilen Widerstand leisten gegen staatliche Maßnahmen, das Menschsein abzusprechen? Den politischen Gegner zu kriminalisieren heißt, sich an einer Grenze zu bewegen – genauso wie wer zivilen Widerstand übt, sich an einer Grenze bewegt, aber eben nicht zum Verbrecher wird. Doch selbst wenn ziviler Widerstand zum Verbrechen würde: Wie kann ein Politiker öffentlich behaupten, bestimmte Menschen seien keine Menschen? Wieso steht ein Verbrecher außerhalb des Menschseins? Immerhin spricht Tillich nicht von Mördern, sondern von Bürgern, die einen Bus mit Migranten nicht in ihr Dorf einfahren lassen wollten. Wenn Verbrecher keine Menschen sind, was sind sie dann? Sind es Tiere, Untermenschen oder Dämonen? Tillichs Aussage stellt uns vor das Problem, wie Grenzen zu ziehen sind. Wenn eine radikale Moralität die Grenzen zieht, und wenn diese Grenze zur ultimativen und sakralisierten wird, dann freilich ist der Satz richtig: Verbrecher sind keine Menschen. Sie haben ihr Menschsein verwirkt, in dem Augenblick als sie den Bus mit Migranten stoppten. Die gesamte Menschheit sagt sich los von ihnen und anerkennt sie nicht mehr als zur Gattung zugehörig.
»Keine Obergrenzen«, so lautete das Mantra, mit dem die Kanzlerin die unkontrollierte und rechtswidrige Zuwanderung nach Deutschland befahl und jedweden Einwand abschmetterte. Am 7. Oktober, in einem Interview, behauptete sie, Deutschland habe 3 000 Kilometer Landgrenze; diese Grenze sei nicht zu schließen. Folglich liege es »nicht in unserer Macht, wie viele nach Deutschland kommen«. Demnach würde Deutschland sogar die 60 Millionen Flüchtlinge auf dem Globus aufnehmen, und wenn nötig auch 100 oder 200 Millionen. Zum erstenmal in der Geschichte der staatlich organisierten Menschheit verkündigte eine Regierung, daß die Grenzen offen stünden für eine ungehinderte und unbegrenzte Zuwanderung in einen Staat. Eine Entgrenzung dieser Art, wenn sie dauert, läßt jedwede rechtliche und politische Ordnung kollabieren. Ein Staat, der die Hoheit über seine Grenzen aufgibt, gibt seine Staatlichkeit auf.
Vom »Sieg des Bösen« sprach Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag, Edmund Burke zitierend. Den Guten stehen nicht die Schlechten gegenüber, sondern das Böse. Das Böse ist nicht bloß das Schlimme, nicht das Übel. Es ist keine moralische Kategorie, sondern eine