Ein Sommer in Berlin. Beate VeraЧитать онлайн книгу.
zum Besten gab. Das Paar in dem Film El Cid mit der unglaublichen Sophia Loren habe sich ähnlich selten gesehen, erklärte sie. Astrids Kinder Pilar und Jake waren maßgeblich verantwortlich für alles, was Helene derzeit »übelst krass« oder »übelst scheiße« fand. Astrid und ich waren bei unserem zweiten Treffen bereits zum Du übergegangen, und sie versuchte unermüdlich, mir den Rücken zu stärken und mir Mut zu machen.
Ein kurzer Schultag. Mathe und Chemie waren bei Helene ausgefallen. Meine Tochter machte das besonders fröhlich, da sie mit beiden Fächern auf dem Kriegsfuß stand. Bei strahlendem Sonnenschein und karibikblauem Himmel war es auch recht viel verlangt, sich für lineare Gleichungssysteme sowie Stoffe und ihre Eigenschaften zu interessieren, wenn die nicht aus einem Klamottenladen kamen.
Helene sah mich verwundert an, als sie am späten Vormittag von der Schule nach Hause kam. Ich stand in der Küche, Placebo dröhnte durch die Wohnung, die ältere CD, die mit den Coversongs. Astrid hatte sie mir gebrannt, nachdem sie mitbekommen hatte, wie viele Alben dieser Band ich verpasst hatte. Natürlich war bei uns in Kleinmachnow nur Klassik und Jazz in gedämpfter Lautstärke gespielt worden. Hanno besaß schließlich einen gehobenen Geschmack, dem ich mich über die Jahre angepasst hatte. Bei diesem Gedanken musste ich unwillkürlich den Kopf schütteln. Ich hatte so gerne Musik gehört. Das war auch das Erste gewesen, was ich direkt nach unserem Umzug wieder getan hatte. Ich hatte meine alten CDs aus den Kartons geholt und Paps’ alte Revox-Anlage, die er seit den frühen Achtzigern besessen und nun uns überlassen hatte, auf ihre Leistung getestet. Beim Auspacken und Einräumen während des Umzugs und der Renovierung der neuen Wohnung hatten mir die alten Scheiben Trost gespendet. Astrid hatte laut gelacht, als sie meine kleine Sammlung gesehen und vor allem festgestellt hatte, wo diese zeitlich aufhörte. Sofort hatte sie beschlossen, meine mangelhaften Kenntnisse moderner Rock- und Pop-Geschichte aufzufrischen. Seitdem bekam ich regelmäßig gebrannte CDs oder MP3-Dateien von ihr mit allem, was ich ihrer und Pilars Meinung nach kennen müsste. Ich hatte keinen Mann mehr, der mir meinen Geschmack madig machte. Ich musste auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, denn wir hatten in der Potsdamer Straße keine Nachbarn, die laute Musik hätte stören können. Das Küchenfenster stand offen und ließ die Geräusche des bunten Treibens auf der Potsdamer herein. Leider auch den Autolärm – aber meine Musik war lauter.
»Was ist denn hier los?«, fragte meine große Tochter mich also verwundert, als sie die Küche betrat. Ich drehte die Lautstärke herunter und lehnte das Fenster an.
»Was soll los sein, mein Schatz? Ich koche und höre Musik. Das habe ich früher immer so gemacht.«
Nun gut, »früher«, das war lange her. Das war, bevor sie auf die Welt gekommen war. Aber es war nicht gelogen. In den Zeiten v. H., vor Hanno, lief, wann immer ich kochte, putzte oder aufräumte und wann immer mir danach war, laute Musik. Quinn hatte das nie gestört. Wie kam ich denn plötzlich auf den?
»Du hörst Placebo, Mama!« Es klang wie ein Vorwurf.
»Ja, und? Darf man das in meinem Alter nicht? Ich hab schon Placebo gehört, da warst du noch Quark im Schaufenster, mein Schatz.«
»Die sind voll cool! Jakes Schwester steht total auf die, sie hat uns das letzte Album vorgespielt, das mit diesem voll tollen Song über all diese virtuellen Facebook-Freunde und wie doof das eigentlich alles ist …«
Astrids älterer Sohn Thiago, den alle Jake nannten – Thiago war die spanische Form von Jakob –, ging ebenfalls auf Helenes neue Schule und war seit dem Jahreswechsel ihr erster Freund. Ich mochte Jake und konnte gut verstehen, dass sich Helene in ihn verguckt hatte. Er sah toll aus mit seinen schwarzen lockigen Haaren und den schönen, dunklen Knopfaugen. Jake war fünfzehn und spielte Handball im Verein. Als Linkshänder und auffällig effektiver Spieler war er vor den Weihnachtsferien von den Reinickendorfer Füchsen gesichtet worden. Seit der Rückrunde gehörte er der ersten C-Jugend-Mannschaft der Füchse an. Er trainierte dreimal in der Woche im Norden Berlins. Helene begleitete ihn an den Wochenenden zu jedem Ligaspiel, seit sie ein Paar geworden waren, und kannte sich bereits recht gut aus im Regelwerk und den Spielsystemen. An den Abenden, an denen Jake Training hatte, lag sie schmachtend auf ihrem Bett und chattete endlos mit ihrer besten Freundin Lavinia.
Jakes zwei Jahre ältere Schwester, Pilar, befand sich im zweiten Kurshalbjahr der Oberstufe und würde im nächsten Jahr ihr Abitur machen. Die kleine Schwester der beiden, Marisol, ging in dieselbe Grundschulklasse wie Daniel. Ich war sehr froh über diese Verbindungen mit den Alvarez Garcias.
Wo meine zahlreichen anderen Freunde waren, fragen Sie? Diese Frage hatte ich mir auch mehrmals in den vergangenen Monaten gestellt, und ich hatte mir eingestehen müssen, dass ich meine alten Freunde im Laufe der Jahre mit Hanno immer mehr vernachlässigt hatte, bis die Kontakte schließlich eingeschlafen waren. Hanno fand die meisten von ihnen ohnehin keinen passenden Umgang für mich, sie seien zu jung und zu unreif. Und ich hatte doch schließlich ohnehin genug zu tun: die Kinder, das Haus, der Garten, Hannos Termine. Das alles hatte mir kaum Zeit gelassen, mal mit Freunden auszugehen oder Sport zu treiben.
Als Kind und als Jugendliche hatte ich in jeder freien Minute auf Roll- oder Schlittschuhen gestanden, und bevor die Kinder kamen, war ich eine passionierte Läuferin gewesen. Ich hatte auf die Halbmarathonstrecke hin trainiert, als ich zum ersten Mal schwanger wurde. Hanno hatte mir damals nahegelegt, keinen Sport mehr zu treiben. Ich sollte lieber nichts riskieren, fand er, und ich tat ihm den Gefallen. Er war ja so besorgt um mich, das fand ich süß. Und nach Helenes Geburt befand er, Joggen oder Inlinern mit Kinderwagen passte nicht zu uns. Also zog ich nach jeder Entbindung mit dem robusten Kinderwagenmodell einer Edelmarke gemessenen Schrittes meine Bahnen durch Kleinmachnow, Hanno zuliebe und des lieben Friedens wegen. Einzig Franziska Becker schaute bei mir vorbei – zumindest immer dann, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte oder etwas in ihrer Küche fehlte.
»Mama, seit wann hörst du denn so übelst krasse Musik?«, hakte Helene nach.
Ich legte das Küchenmesser beiseite und blickte meine große Tochter an. Sie war nur noch ein paar Zentimeter kleiner als ich, hatte dunkelblonde lange Haare, strahlend blaue Augen, eine hübsche Stupsnase und einen geschwungenen Mund, der seit einiger Zeit viel zu selten lächelte. Pubertät war ein hässlicher Job, und wenn man vom Vater hängengelassen wurde, war er besonders hässlich. Nicht zum ersten Mal dankte ich meinen Eltern innerlich für die Dominanz ihrer Gene, die dafür gesorgt hatten, dass meine Kinder ihrem Vater nur wenig ähnelten. Helene würde ihre Zahnspange zwar noch ein Jahr tragen müssen, aber selbst mit dem Metallgebiss war sie ein hübsches Mädchen. Sie war im Laufe der letzten Monate stark gewachsen, und ihre Züge hatten jene Kindlichkeit verloren, die ich ihr im vergangenen Sommer noch hatte ansehen können. Sie war, vermutlich auch durch die Ereignisse im Herbst und Winter, zu einer jungen Frau herangereift. Mir schwante, dass ich ein gewisses Thema nicht mehr lange vor mir herschieben konnte. Zunächst galt es aber, mir ein paar Pluspunkte in Sachen Musikgeschmack zu verschaffen.
»Lelli, ich habe früher ganz viel krasse Musik gehört.« Den Spitznamen hatte sie von ihrem Bruder bekommen. Vincent hatte seine große Schwester so genannt, als er noch nicht richtig sprechen konnte. »Du hast dir wohl nie die Mühe gemacht, mal meine CDs durchzusehen, was?« Jetzt galt es, meinen größten Trumpf auszuspielen. »Ich habe sogar 1998 einen der ersten Coldplay-Auftritte gesehen, in Camden, als die noch niemand kannte. Das war gigantisch!« Das ganze Wochenende mit Quinn in London war gigantisch gewesen, wenn ich so darüber nachdachte.
Helene klappte die Kinnlade herunter. Coldplay war ihre absolute Lieblingsband. Dann schloss sie ihren Mund wieder, sagte noch einmal »Krass!« und stellte sich neben mich an die Arbeitsplatte. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass Helene mir freiwillig im Haushalt half. Sie nahm das Küchenmesser und schnitt die Möhren in Halbkreise. Das Telefon klingelte. Ich fand das Mobilteil unter der Zeitung und ging damit in den Flur.
Caterina Thomas.«
»Trinchen, hier ist deine Mutter.«
Ich hatte irgendetwas tun müssen, das mir nach den vergangenen Monaten wenigstens ein Stück weit das Gefühl der Ohnmacht nahm, und im März meinen Mädchennamen wieder