Ein Sommer in Berlin. Beate VeraЧитать онлайн книгу.
uns auf Anhieb blind und wurden unzertrennlich. Wir teilten die Liebe zum Lesen, und Quinn erweiterte sein Angebot um ein Regal mit französischen Titeln, das ich alleine gestalten durfte. Nach Feierabend gingen wir aus, sahen Filme im Odeon Kino oder bummelten die Goltzstraße entlang. Wir kannten alle Bars und Restaurants im Kiez und waren Stammgäste im Südwind, einem mediterranen Lebensmittelladen mit kleiner Gastronomie im Akazienkiez. Wir wurden einander nicht überdrüssig. Dann kam drei Jahre, nachdem wir zueinandergefunden hatten, jener Sonntagmorgen, an dem ich alles ruinierte.
Quinn und ich hatten uns nach dem Aufwachen geliebt und waren danach hungrig. Er kam aus der Küche ins Schlafzimmer zurück und trug ein liebevoll angerichtetes Tablett, auf dem sich Brötchen, Frühstückseier und die große Chambordkanne mit Kaffee aus selbstgemahlenen Bohnen befanden. Ich lächelte ihn lasziv an, denn noch mehr Appetit als auf ein opulentes Frühstück hatte ich auf etwas ganz anderes. Er stellte das Tablett ab und legte sich neben mich.
Ich schmiegte mich an ihn. »Lass uns ein Baby machen!«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ganz ehrlich? Dass er mich in seine Arme nähme, mich küsste und etwas sagen würde wie »Nichts lieber als das, Catia, ich möchte eine ganze Fußballmannschaft«?
Natürlich sagte er nichts dergleichen. Quinn hatte überhaupt kein Interesse an Fußball. Er löste sich aus meiner Umarmung und sah mich zornig an. Dann griff er sich schweigend seine Kleidung und verließ die Wohnung.
Ich verstand die Welt nicht mehr und blieb zitternd auf dem Bett liegen. Irgendwann wurde es wieder dunkel draußen, und ich zog mich an. Ich saß am Küchentisch, als er gegen zehn Uhr abends wieder nach Hause kam. Er war betrunken und sagte Dinge, die mich sehr verletzten. Dabei zeichnete er ein hässliches Bild der Frau im Allgemeinen. Ich zog aufs Sofa.
Am Tag darauf wechselten wir im Buchladen kein Wort miteinander. Es gab auch nichts zu sagen. Er hatte mir doch deutlich gezeigt, was er von meinem Vorschlag hielt, was er von mir hielt. Nach drei Tagen des Schweigens packte ich meine Sachen und zog zu meiner damaligen Freundin Corinna. Ich heulte eine ganze Woche lang, dann wurde ich sauer. Im Laden sprachen Quinn und ich nur das Nötigste miteinander, und ich begann mich nach einem neuen Job und einer neuen Bleibe umzusehen. Zwei Wochen nach meiner Frage, die alles kaputtgemacht hatte, fiel ich in das Günter-Grass-Display.
Mittwochvormittag. Die Kinder waren in der Schule, die E-Mail an Stefan Starke mit der Bitte um einen dringenden Termin war versandt. Wie von der Kanzleileiterin empfohlen, mit der ich zuvor telefoniert hatte, hatte ich dem Schreiben eine kurze Schilderung der Situation beigefügt. Ich lungerte vor meinem Kleiderschrank herum und bereute meine Zusage, Quinn zu treffen, aus vollem Herzen.
Rund zwei Stunden lang hatte ich bereits meine Haare auf Wickler gedreht, die Locken wieder ausgebürstet und die Haare erneut gewaschen. Während ich meinen Kleiderschrank durchwühlte, musste ich mir eingestehen, dass selbst die durchgestylteste Frisur nichts an der Tatsache ändern konnte, dass ich, seitdem Quinn mich das letzte Mal gesehen hatte, dreizehn Kilo zugenommen hatte. Das machte, so wie die verteilt waren, an gewissen Körperzonen drei Kleidergrößen mehr aus. Sehnsüchtig erinnerte ich mich an die schwarze Bootcut-Jeans, die über Jahre mein Lieblingskleidungsstück gewesen war. Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für einen Lagenlook, bestehend aus einer schwarzen Hose, die erheblich größer war als meine frühere Favoritin, einem schwarzen Longtop und darüber einem lockeren, dünnen, oversized Seidenpullover in einem hellen Türkis. Dazu noch eine auffällige Kette und die hohen Sandalen, die mein Gebein streckten. Da es unwahrscheinlich war, bis zum Abend zehn Kilo abzunehmen, musste ich mich mit diesem Outfit anfreunden.
Meine Nervosität nahm den Tag über stetig zu, gegen halb sieben war ich ein einziges Nervenbündel. Meine Haare hatte ich am Ende nur noch trockengeföhnt – ohne Wickler. Ohne alles, das gefiel mir am besten.
Franziska hatte mich einmal mehr nicht zurückgerufen, Pilar würde auf die Kinder aufpassen. Sie hatte gleich zugesagt, und ich hatte Helenes Proteste ignoriert. Die wähnte sich alt genug, einen Abend lang das Kommando zu übernehmen und ihre kleinen Brüder herumzuscheuchen, während sie selbst stundenlang chattete – so vermutete ich jedenfalls.
»Sie sehen toll aus, Frau Thomas!« Pilar schaute einmal an mir hoch und wieder herunter.
Ich musste zugeben, ich fühlte mich geschmeichelt. »Danke, Pilar. Den Zuspruch kann ich brauchen, ich war so lange nicht mehr aus. Na ja, wird schon schiefgehen!«
Mit einer Ermahnung an mein Trio, auf Pilar zu hören und nicht zu spät ins Bett zu gehen, drückte ich der Siebzehnjährigen einen Zettel mit Instruktionen und meiner Handynummer in die Hand. »Egal, was ist, du rufst mich an, wenn es ein Problem geben sollte! Ich mache mich dann sofort auf den Weg.«
Pilar schmunzelte. »Hier wird es keine Probleme geben, Frau Thomas. Machen Sie sich einen schönen Abend und keine Sorgen! Ich habe das eine oder andere As im Ärmel. Viel Spaß!«
Kam es mir nur so vor, oder schob sie mich geradezu über die Schwelle? »Na gut, um halb zwölf bin ich wieder zurück. Spätestens!«
Doch Pilar hatte die Wohnungstür schon hinter mir geschlossen. Auf in die eigene Vergangenheit!
Die Phoenix Lounge hatte sich nicht verändert, und ich fühlte mich sofort wieder heimisch. Ich sah das vertraute Dekor, den langen Tresen vor der rechten Wand des Lokals, die alten Tische und Bänke im hinteren Teil des Gastraums. Dann stockte mir der Atem. Hinten, in unserer alten Ecke, saß er. Quinn hatte mich noch nicht bemerkt, er las ein Buch.
Unzählige Male hatte ich ihn dort sitzen sehen, wenn ich mal wieder spät dran war, weil ich mit einer Kundin noch ins Schwärmen über den großartigen ersten Roman von Noëlle Chatelet geraten war, der gerade in deutscher Übersetzung erschienen war, oder mit jemand anderem die düsteren Bilder in Léo Malets Schwarzer Trilogie bewundert hatte.
Quinn war älter geworden, was nicht überraschend war. Doch Quintus Hartmann, Buchladenbesitzer, passionierter Buchkonsument und meine erste ganz große Liebe, sah immer noch ausgesprochen gut aus. Der braune Lockenschopf war einem modernen Kurzhaarschnitt mit graumelierten Schläfen gewichen. Er hatte seine athletische Figur nicht eingebüßt. Ob er immer noch Aikido trainierte? Er trug ein Twillhemd in Hellblau, eine Farbe, die, wie ich mich plötzlich erinnerte, ihm furchtbar gut stand, dazu eine dunkelbraune Canvashose und passende dunkle leichte Sommerschuhe. Er hatte sich kaum verändert. Dieser Stil hatte mir damals schon so gut gefallen. Was würde er nur denken, wenn er mich sähe?
Ich war kurz davor, mich umzudrehen und die Verabredung platzen zu lassen, da blickte er hoch und sah mir direkt in die Augen. Einen Moment lang dachte ich, meine Knie würden nachgeben. Quinn hatte noch immer diesen eindringlichen Blick. Seine Augen waren dunkelbraun, am Rande der Iris wurden sie golden. Wenn wir uns geliebt hatten, hatten sie die Farbe von dunkler Schokolade angenommen. Zusammen mit seinem Lausbubengrinsen hatten sie ihn unwiderstehlich gemacht.
Quinn erhob sich. Er lächelte, hatte einen suchenden Ausdruck im Gesicht und kam um den Tisch herum auf mich zu. Als er mich umarmte, hatte ich auf der Stelle gewaltige Orientierungsprobleme. Eine Flut von Erinnerungen stürzte auf mich ein. Die meisten davon waren nicht jugendfreier Natur. Parbleu! Was hatten wir für phantastischen Sex gehabt! Wie hatte ich den nur vergessen können?
Quinn löste die Umarmung und betrachtete mich eine Armeslänge von sich gestreckt. »Catia, du siehst toll aus!«
Ich glaubte ihm kein Wort. Drei Kinder und eine gescheiterte Ehe hatten deutliche Spuren hinterlassen. Nicht zu meinem Vorteil, wie ich meine Mutter in meinem Hinterkopf zischen hörte. Ich winkte ab. »Danke. Können wir uns setzen?«
Quinn schaute überrascht und wartete, bis ich saß, bevor er selbst wieder Platz nahm und der Bedienung winkte. Als die an unseren Tisch trat, zögerte er kurz und blickte zu mir. »Das Gleiche wie früher?«
Wie früher … Da hatten wir eimerweise Applejack Sour getrunken – Calvados, Zitronensaft, Zuckersirup und Sodawasser eisgekühlt –, wenn wir auf private Partys gegangen oder uns die Nacht in einem Club um die Ohren geschlagen hatten. Ich hatte diesen Drink seit fünfzehn Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Das machte