Keine Lust und trotzdem fit. Gert von KunhardtЧитать онлайн книгу.
aber nur noch 3.000 Schritte. Treppensteigen, Auto nicht direkt vor der Tür parken und im Büro auf und ab gehen wäre löblich.“7
Grund dafür ist unser Erfindungsreichtum, der uns jeden Tag neue Möglichkeiten eröffnet, die das Leben erleichtern, muskulär entlasten, den damit verbundenen Stoffwechsel verringern und uns körperlich anfälliger machen. Es fällt zunehmend schwer, sich muskulär selbst zu tragen. Deshalb wird gesessen. Inzwischen elf Stunden am Tag!8 Die Gesundheit leidet, d. h., es entstehen immer neue Krankheiten, vom abnehmenden Wohlbefinden mal ganz zu schweigen.
Natürlich gibt es für jede Krankheit heute eine medizinische Erklärung und eine entsprechende Medikation. Die Sache ist im Griff. Aber sie wird nicht besser! Denn schleichend wird die normale Bewegung verlernt. Unbemerkt ist sie abhandengekommen. Kinder spielen kaum noch draußen. Geschicklichkeitsübungen wie Hüpfen, Balancieren, Springen, Rennen, Ballfangen, Tanzen, An- und Wegschleichen finden nur noch im Fernsehen statt.
Wenn ich mich heute bewege, dann zunehmend mit Hilfsmitteln: Ergometer als Fahrradersatz, Fitnessgeräte zum Muskeltraining und Stöcke beim Nordic Walking, um zu gehen. Das Neueste ist das Pedelec, Radfahren mit E-Motor. Die Tragik ist, dass die vielen Angebote, Trainingsmethoden und Geräte im Gesundheitswesen gerade die nicht erreicht haben, die es am nötigsten haben.
Die Aussichten sind nicht ermutigend. Wenn ich an die Entwicklung von Demenzerkrankungen, auch an Parkinson, denke, weiß ich, dass dies laut Hollmann Folgen mangelnder Bewegung, besonders fehlender Fingerfertigkeiten sind. „Wer ganz bewusst seine Finger aktiviert, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Parkinson, Alzheimer oder andere Demenzerkrankungen erleiden“, so Hollmann auf einer sportärztlichen Weiterbildung.9
Natürlich ist es eine Riesenerleichterung, wenn ich an der Garage vorfahre und der Bewegungsmelder das Licht einschaltet. Jede Tür im Supermarkt öffnet sich selbst, das Wasser in der Toilette läuft automatisch. Der Scheibenwischer springt beim ersten Regentropfen an, sogar das Fahrlicht bei einbrechender Dunkelheit. Autositze werden mit Memorytaste elektrisch nach einmal eingegebener Sitzposition auf meine Abmessungen eingestellt, sobald ich den Türöffner betätige.
Ich brauche mir keine Gedanken darüber zu machen, etwas zu versäumen, die sensorische Technik nimmt alles ab. Nicht nur das Denken, sondern fatalerweise auch die dazu eigentlich erforderliche Bewegung. Je zwingender der Ruf nach mehr Bewegung ist, desto wichtiger wird die Lösung der Frage: Wie bringe ich meine Muskeln dazu, trotzdem den lebensnotwendigen Stoffwechsel zu erzeugen?
Dabei geht es nicht um eine zusätzliche Stunde Joggen oder Gerätetraining. Es geht um ein insgesamt bewegtes Leben, genauer, um ein bewegteres Leben, nach dem Motto: Jedes Fingerschnippen ist ein Gewinn. Das verlangt ein Umbesinnen, eine Umstrukturierung des routinierten Alltags.
Es braucht keine zusätzliche Zeit. Ich kann verstehen, dass dir die gigantische Aufgabe über den Kopf wächst, deinen Stoffwechsel von derzeit etwa 1.000 Schritten im Durchschnitt ab morgen auf das Zehnfache, nämlich 10.000 Schritte anzuheben. Diese Zahl empfehlen jedenfalls die europäischen Gesundheitsminister zur Aufrechterhaltung der Gesundheit.10
Das macht mutlos. Die Herausforderung ist groß. Die Überwindung zu einem radikalen Bewegungswandel scheint unmöglich. Wie sollst du das in deinen ohnehin überfüllten Tag noch zusätzlich hineinbringen? Da hilft nur ein Umdenken, kein Rückschritt in die vorindustrielle Bewegungsform, mit Holzhacken, Kartoffelnausgraben und Briefschreiben, sondern nur daran denken, wie du dich jetzt, in dieser Sekunde, mehr bewegen kannst. Einfach mal die Arme heben, die Schultern rollen, vor- und rückwärts. Hier und jetzt!
Hast du’s gemacht? Weißt du, dass du dich damit deutlich mehr als gestern bewegt hast? Einmal aufstehen und wieder hinsetzen. Ist dir bewusst, dass du jetzt einen wirksamen Beitrag gegen die Entstehung von Osteoporose geleistet hast? Jede zusätzliche Bewegung, gleich an welchem Ort, zu welcher Zeit, bei welcher Gelegenheit, dient deiner persönlichen Gesundheitsoptimierung.
Keine Lust? Aber stell dir vor: Jedes Aufstehen aktiviert über zweihundert Muskeln, und zwar die ganz großen. Die daraus resultierende intramuskuläre chemische Aktivität ist verblüffend. Die Muskeln sind mit Abstand das größte und damit wichtigste Stoffwechselorgan des Menschen. In Kopenhagen wird dazu möglicherweise gerade Medizingeschichte geschrieben. Denn hier hat die renommierte Medizinerin Bente Pedersen ein Geheimnis der rätselhaften Botenstoffe der Muskeln entschlüsselt.
Sie sagt, dass die Skelettmuskeln nicht nur für unsere Bewegung zuständig sind, sondern dass sie das wichtigste Stoffwechselorgan des Menschen bilden. Die Botenstoffe, die Skelettmuskeln aussenden, nennt man Myokine. Sie regulieren sogar die Fettverbrennung im Körper. „Wenn man seine Muskeln nicht trainiert, dann produziert man auch nicht genügend Myokine. Beim Muskeltraining kommen Myokine aus dem Muskel und beeinflussen alle anderen Organe. Sie gehen zum Fett und verbrennen genau das Fett, das an den falschen Stellen sitzt. Sie beeinflussen die Gefäße und auch die Leber und halten sie gesund. Myokine beeinflussen sogar das Gehirn und schützen vor Demenz.“11
Erst von rund einem Dutzend Myokine ist die Wirkungsweise bekannt. Sie sind Signalstoffe des Muskels und aktivieren die Fettverbrennung. So gibt es hormonähnliche Myokine, sie regen die Leber zum Abbau der Glucosedepots an und helfen damit der Bauchspeicheldrüse. Auch die Neubildung von Blutgefäßen und Muskelzellen wird durch bestimmte Myokine gefördert. Und viele haben entzündungshemmende Eigenschaften, die Herz- und Kreislauferkrankungen vorbeugen. Fast 400 verschiedene Substanzen produziert der Muskel. Sie sind Teil eines komplizierten Mechanismus, der tief in die Stoffwechselprozesse des Körpers eingreift. Der Großteil ist jedoch noch unerforscht.
Du kannst also buchstäblich alle Medikamente, die du in der Apotheke für deine Gesunderhaltung kaufst, selbst herstellen. Nur indem du aufstehst, dich bewegst, drehst, gehst und wieder setzt. Diese kleinen Bewegungsabfolgen kannst du systematisch zum Programm erheben. Denn der kleine erste Schritt, aufstehen, Arme heben, dich recken, strecken, dehnen, ist der Anfang dieses neuen bewegten Lebens.
Nimm dir nur vor, jeden Tag insgesamt zehnmal bewusst zusätzlich aufzustehen. Zehnmal über zweihundert Muskeln lassen 40 % unserer körpereigenen Zellen gleichzeitig mehr als gestern arbeiten. So solltest du rechnen. Was kannst du mehr als gestern machen? Da sind große Steigerungen möglich. Hast du’s?
Um es noch einmal ganz deutlich zu machen: Beim einfachen Aufstehen wird eine fabelhafte Lymphdrainage ausgelöst, die Venenpumpe in Gang gesetzt, das Bindegewebe durchlässig gemacht, entgiftet, gestärkt, Krampfadern vorgebeugt, Synovialflüssigkeit in die Fuß-, Knie- und Hüftgelenke injiziert, der Arthrose vorgebeugt, das neuromuskuläre System aktiviert etc.
Wippe im Stehen von den Zehen auf die Ferse und setze dabei die Arme als Schwunghilfe ein. Das aktiviert die sogenannte Venenpumpe. Die Wadenmuskulatur spannt sich an und drückt so die durch sie verlaufenden Venen platt. Das Blut wird beschleunigt zum Herzen transportiert. Intelligente Venenklappen verhindern wie Schleusentore einen Rückstau. So erleichterst du einerseits dem Herzen die Arbeit, hältst zum anderen die Venen elastisch und vermeidest dicke Beine und Krampfadern. Je stärker der Wadenmuskel, desto leistungsfähiger die Venen. Diese Übung kannst du auch im Sitzen vor dem Computer oder während Konferenzen nutzen.12 Damit hast du in kürzester Zeit das erste und bereits hochwirksame Trainingsprogramm begonnen.
Wenn du wirklich jeden Tag nur zehnmal zusätzlich aufstehen und dich setzen würdest, hättest du die Fahrkarte zur Gesundheit in der Hand.
Mut zur Langsamkeit
Weil ich der Kleinste und Schwächste in der Klasse war, wollte mich keiner in seiner Fuß-, Hand- oder Basketballmannschaft haben. So blieb ich oft als Reservemann auf der Seitenbank sitzen. Als ich dann im Abschlusszeugnis mit der schlechtesten Note der ganzen Klasse im Sport entlassen wurde, war dies keine günstige Voraussetzung, um lebenslang Sport zu treiben. Ich war,