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Kreuzwege unter der Sonne. Mario MonteiroЧитать онлайн книгу.

Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro


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wenn Selmira zu ihm kam und ein paar Stunden bei ihm blieb. Meistens hockte das Kind auf einer umgestülpten Kiste und stopfte sich eine halbwegs essbare Banane in den Mund.

      »Joshua! Deine Bananen sind schon wieder schwarz. Es wird nicht leicht sein, sie noch loszuwerden!«

      »Ich weiß, ich weiß schon.«

      Der alte Mann musste sich das alles gründlich überlegen. Mit schläfrigen Augen ließ er die paar Reais, die er tagsüber eingenommen hatte, durch seine Finger gleiten. Ob er dafür auf dem Frühmarkt noch genauso viel bekommen würde? Blieb dann doch noch ein später Käufer vor seiner Obstbude stehen, so wurde er meistens von Selmira bedient. Wenn es Nacht in Rio wurde, dann kauften sie lieber von ihr.

      Joshua wühlte in den Kisten. Die Angefaulten mussten raus. Kurz vor elf kam Angelica vorbei und nahm den Kram mit. Was sie damit wohl anstellen mag?, fragte er sich, während er den Inhalt seiner Tageskasse immer wieder zählte und das Päckchen zerfledderter Scheine schließlich in einem halbvollen Sack versteckte, in dem er gewöhnlich Trockenobst verwahrte. Er musste sich vor den Jungen, die sich jede Nacht zusammenrotteten, durch die Straßen rannten und kleine Händler und wehrlose Frauen ausraubten, hüten. Was konnte man tun? Eigentlich war ihm nie etwas anderes eingefallen, als zwei, drei Scheine und etliche Münzen geringen Wertes neben der Waage liegen zu lassen. Die rissen sie dann jedes Mal herunter und weg waren sie.

      Lange genug hatte der alte Mann an seinen Trick geglaubt. Bis sie ihn eines Nachts vermöbelten, auf seine Knie traten und in seine Ohren brüllten: »Los, Opa! Wo ist der Zaster?« Dann schlugen sie immer wieder auf ihn ein. Woher sollte Joshua denn wissen, ob sie in der nächsten Nacht wiederkamen?

      »Es geht immer blitzschnell«, fügte er sich. »Und die paar Leutchen, die dann noch vorbeilaufen … die helfen mir doch nicht. Die gucken nur zu, werfen höchstens die Hände in die Luft und laufen schnell weg.« Joshua schüttelte den Kopf. »Es geht so schnell … immer so schnell.« Nie habe ihm einer geholfen, jammerte er. »Manche lachen sogar. Hier lachen sie immer«, behauptet er aus Erfahrung. Auch wenn es gar nichts zu lachen gebe. Und dann, ganz plötzlich, lacht er selber. Warum sollte er nicht lachen? »Zahlt man dafür vielleicht Steuer?«

      Im Übrigen: Wer wisse schon, was uns der nächste Tag bringen wird? Für ihn liege nicht mehr viel drin, glaubte Joshua im Stillen. Sein Bauch wurde in letzter Zeit so dick. Obwohl er gar keinen Appetit mehr hatte und die Kisten kaum noch heben konnte. Vielleicht, weil seine Arme abgemagert waren und weil er so schnaufen musste, bevor es wieder weiterging.

      Nachdenklich betrachtete er den Betrunkenen, der vor sich hinlallte und an den Obstkisten vorbeitorkelte. Weit wird der Bursche nicht mehr kommen, vermutete Joshua. Und Bananen wird er auch nicht kaufen. Umfallen wird er. Einfach umfallen und liegen bleiben und nicht einmal mehr den Wind spüren, der nachts von der See herüberbläst.

      »Selmira!« Er wollte sie doch so lange schon danach fragen … Joshua starrte die Kiste an, auf der das Mädchen gerade noch gesessen hatte.

      »Puxa!« Der Blonde kaufte also doch keine Bananen. Er wollte nur Selmira haben.

      Eine glasklare Träne versickerte in dem Gesicht des alten Mannes. Warum bloß ist sie weggelaufen? Ängstlich löschte Joshua die Petroleumlampe und legte sich auf das Bündel leerer Säcke.

      Das Getrappel kam aus der Nebenstraße. »Polícia, Polícia!« Schüsse, ein einzelner gellender Schrei, dann ein Körper, der über den Abflusskanal stürzte, und die Sirene eines Bereitschaftswagens, der durch die Straße heulte. Im Morgengrauen veranstalteten sie den Sturm auf die Disko. Dann stopften sie ein rundes Dutzend kahlköpfiger Dealer in den Transporter. Zusammengepfercht ging’s auf die nächste Polizeistation. Was hieß das schon? Der Leutnant im vorausfahrenden Jeep gähnte vor sich hin. Nacht für Nacht die gleiche Tour, die gleichen Straßen, kreischende Bremsen, raus aus dem Jeep, schussbereite Waffen im Anschlag und weiter. Immer weiter. In rasender Fahrt über Plätze und durch Gassen, rein in schummrige Löcher, Schlupfwinkel und Kokskeller ausfindig machen, vorbei an lebensgefährlichen Hinterhöfen, pechschwarzen Durchfahrten, an mannshohen Stahlgittern vor den Zementburgen der Reichen. Warnrufe, Hohngelächter, höllisches Echo aus finsteren Ecken, über das Pflaster klatschende Strandsandalen. Noch halbe Kinder schleiften sie jede Nacht auf die Wache. Dort ging es bis zum Morgengrauen mit den Verhören weiter. Wer stur war, kriegte seine Dresche. Mittags musste man die Kerlchen wieder laufen lassen. Schon von alters wegen. Außerdem … wohin mit ihnen? Nur die großen Haie, die ein Heer von Buben und Mädchen, die Hosentaschen voll Koks und Crack, durch die Gegend schickten, kriegten sie nie.

      »Komm schon«, murrte der Fahrer des Jeeps. »Nix mehr los heut Morgen.« Der Motor fing an zu husten. »Merda! Das fehlt uns gerade noch.«

      »Halt mal an«, befahl der Leutnant. »Dort … in der Einfahrt!« Hinter einem halb offenstehenden Hoftor erhoben sich Umrisse des Rohbauskeletts. Haarscharf am Randstein hielt der Jeep. Die Halogenlampe tastete einen Zementpfeiler nach dem anderen ab und verlor sich im schwarzen Hintergrund. Irgendwo wimmerte jemand. Oder war es nur leises Stöhnen, Ausklang einer endlos freudvollen Nacht? Wo war man denn? Also, warum nicht weiterfahren? Nichts wie weiter! In einer halben Stunde war es aus mit dem Dienst.

      »Stopp mal!«

      Der Lichtstrahl traf mitten in das Gesicht. Ein blauschwarzes Kindergesicht, verzerrt, mit dunklen Flecken gleich neben der Nase, zitternde Lippen. Jetzt hielt es die Hand über die verweinten Augen.

      Wieder war sie da, die lähmende Angst, das Nicht-Wissen, wohin, nur Entsetzen pur und Scham und die Mauer, über die man nicht herüberkommt. Wo wohnte die Freiheit? Die Wunde oberhalb des Knies blutete. Warum bloß war sie mitgegangen? Wäre sie nur bei Joshua geblieben …

      Misstrauisch wurde sie angestarrt, von oben bis unten. »Wer war das?«

      Wer sollte es schon gewesen sein? Irgendeiner eben. Selmira schwieg und blickte vor sich hin auf den sandigen Boden, den Rücken an den Betonpfeiler gelehnt.

      »Los, red schon, wo hast du dich rumgetrieben?« Fragend zeigte der Polizist in die Dunkelheit des Rohbaus. Wer weiß, was dort drin mit der Kleinen passiert ist?

      Selmiras Tränen tropften in den Sand. Beim letzten Mal hatte es auch so angefangen. Jetzt werden sie wieder fragen und fragen. Und dann, wenn sie fertig sind, werden sie mit ihr hinauffahren und sie abliefern, und sie wird wieder vor ihrem Vater stehen. Wieder und wieder. Immer wieder. »Nein, bitte … bitte nicht. Nicht nach Hause!«

      Die Polizisten hörten es nicht. Wozu auch? Es war kurz nach fünf, um sechs war es mit dem Nachtdienst aus. »Setz sie hinten rein und fahr los!«

      Hinter der nächsten Querstraße stotterte der Motor zum zweiten Mal. Dann stand die Kiste. Endgültig und definitiv. Im Schein der Taschenlampe sahen sie Öl auf den Boden tropfen. »Ein Liter ist mal weg. Mindestens.« Das Wasser im Kühler kochte. »Merda maldita!«

      »Das hast du jetzt schon zum zweiten Mal gesagt.«

      Der Fahrer hörte es nicht. Vielleicht war der Motor endgültig im Eimer. Selmira weinte leise vor sich hin.

      Jenseits knarrte ein Fenster. Der keuchende Atem der Frau war bis hierher zu hören. Für Sekunden zeigten sich fleischige Arme auf dem Fensterbrett. Neugierig belauschte sie das Gespräch in dem verlassenen Sträßchen und rückte dabei ihre Brille zurecht. Nachdem sie das Fenster geschlossen hatte, verlosch das Licht in der Stube.

      »So früh schon auf den Beinen?«, rief der Leutnant.

      Armanda sicherte sich am Handlauf der Treppe und tappte wortlos hinunter. »Was ist mit der Kleinen?«, fragte sie mit einem Blick auf den Jeep.

      »Immer schön neugierig, hm! Was soll schon mit ihr sein? Ausgerissen wahrscheinlich und durch die Gegend zigeunert. So wie alle!«

      »So wie alle?« Mit einem Zipfel der Schürze putzte Armanda ihre Brille. »So wie alle«, wiederholte sie leise und besah sich die Flecken in Selmiras Gesicht.

      »Das Dingchen da kommt mit«, murrte der Offizier. »Auf die Wache. Sobald die Kiste wieder okay ist.« In einer Stunde sei es aus mit dem Dienst, wurde Armanda informiert. »Aus, fertig.«


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