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Marivan unter den Kastanienbäumen. H. EzadiЧитать онлайн книгу.

Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi


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kannte keine Grenzen in diesen Glücksmomenten.

      Viele der Jugendlichen waren mit ihrer Pishahang-Uniform gekommen. Aber wir Kurden trugen unsere traditionelle Kleidung und die kurdischen Mädchen zeigten sich in farbenfrohen, langen Kleidern, die im Wind um das Feuer wehten und ein wunderschönes Bild abgaben. Voller Romantik spiegelten sich die hübschen Mädchen mit funkelnden Augen hinter den Farben des Feuers. Es waren unbeschreibliche Bilder. Eine Augenweide im schnellen Rhythmus des Tanzes und unserer Lieder.

      Immer mehr Pishahang, Türken und andere junge Leute gesellten sich zu uns und reihten sich in den Tanz rund um das Feuer ein. Einige von ihnen kannten diese Fröhlichkeit nicht, doch sie ließen sich bald davon anstecken. Wir alle waren plötzlich eins, wir sangen und tanzten. Bis spät in die Nacht hinein waren wir wie eine glückliche Familie. An diesem Abend gab es keinen Unterschied zwischen den Menschen und ihren Kulturen. Viele von den anderen kannten uns Kurden gar nicht, sie glaubten auch nicht, dass wir im Iran leben. Sie waren neugierig und wollten unsere Lieder und deren Inhalte verstehen lernen.

      Es wurde spät, und wir alle gingen in unsere Unterkunft, denn es waren nur noch wenige Stunden bis zum nächsten Morgen. Ich fiel wie berauscht und glücklich in mein Bett und träumte die ganze kurze Nacht von diesem schönen Abend. Es war ein wunderschöner Traum, voller Zufriedenheit und Neugierde, was alles während unserer Ferien im Camp noch passieren würde. Als es Morgen wurde, träumte ich noch immer, jetzt aber anders. In meinem Traum hörte ich ein Lied und dachte in den Bildern meines Traumes, ich sei noch immer am abendlichen Feuerlager. Jedoch war das Lied ein anderes, es war nicht unsere Musik, nicht unser Tanz.

      Vorsichtig öffnete ich nach dieser kurzen Nacht meine Augen und bemerkte, dass dieses Lied kein Traum war. Es klang nach der persischen Sprache und hatte auch keine Melodie. Jemand sprach über die Lautsprecher des Camps und weckte alle zum rechtzeitigen Aufstehen. Mit müden Augen schaute ich zu Mohamed, der noch im Tiefschlaf war. Schnell, aber vorsichtig weckte ich ihn. „Mohamed, wir müssen aufstehen. Es ist schon spät. Wir müssen uns anziehen und zum Frühstück in die Kantine laufen.“ Er reagierte sofort und wir eilten zum Waschhaus. Dort stellten wir uns gemeinsam an das Waschbecken, machten eine Katzenwäsche, putzen uns den Nachgeschmack des Alkohols aus dem Mund und schlüpften, als wir wieder in unsere Hütte zurückgekehrt waren, in Windeseile in unsere Pishahang-Uniform. Dann rannten wir los, um zu frühstücken.

      Die große Kantine war schon voller Jungen und Mädchen. Wir entdeckten das große Büffet, nahmen uns ein Tablett und stellten uns an. Das Angebot an Speisen war sehr reichhaltig, es gab alles, was das Herz begehrte. Verschiedene Brotsorten, Käse, gekochte Eier, auch Wurst auf iranische Art, Marmelade, Honig, Milch und Orangensaft. Noch nie zuvor hatte ich Nahrungsmittel in dieser Dimension gesehen. Aber es musste ja auch für alle reichen. Ich war begeistert.

      Mohameds Augen glänzten und er füllte sein Tablett im Überfluss. Er sagte: „Hussein, mach mir das nach, nimm alles, worauf du Hunger hast.“

      Nachdem unser Tablett übervoll war, bahnten wir uns einen Weg an den Tischen vorbei in die hintere Ecke, wo wir auf Huschiar trafen. Er winkte uns und deutete damit an, dass an seinem Tisch noch Plätze frei seien. Huschiar schaute auf unsere Tabletts. „Mohamed, was hast du denn gemacht? Das kannst du nie im Leben alles aufessen, das reicht ja für zehn Personen!“ Mein Tablett war tatsächlich übervoll und ich schämte mich, weil ich das Gleiche tat wie Mohamed.

      Mohamed, der sich ebenfalls angesprochen fühlte, lächelte nur und sagte: „Das ist doch egal, ich habe einfach zugeschlagen, weil ich noch nie so viele leckere Sachen auf einmal gesehen habe.“

      Huschiar überlegte: „Eigentlich hast du recht, Mohamed. Auch ich habe so einen Überfluss noch nie in meinem Leben gesehen. Ich weiß nicht, wer das alles finanziert. Aber hier kann man mal sehen, wie die Reichen leben.“

      Wir saßen am Tisch und aßen alles, was unser Hunger erlaubte. Hossein, der sich zu uns gesellt hatte, sagte: „Auf der einen Seite bin ich froh, so viel Essen vor meinen Augen zu haben, aber wenn ich an zu Hause denke, an unsere Nachbarn, die acht Kinder haben – deren Vater ist Bauarbeiter und findet im Jahr sechs Monate lang keine Arbeit –, dann ist es traurig. Und seine Frau putzt bei anderen Leuten, durchstöbert auf dem Markt die Abfallkörbe nach verfaultem Obst und versucht auf dem Basar altes Brot zu finden. Ihre Kinder sind armselig gekleidet und tragen alte, gebrauchte Kleidung. Da werde ich nachdenklich und traurig.“

      Wir alle hoben unseren Blick und stimmten Hossein zu. Was er erzählt hatte, machte jeden von uns nachdenklich.

      Wir sahen meinen Lehrer aus Marivan auf unseren Tisch zukommen. „Störe ich euch?“ Als keiner von uns antwortete, fragte er: „Darf ich mich zu euch setzen?“

      „Sie stören doch nicht“, sagte ich. „Bitte nehmen Sie Platz.“

      Nachdem er uns gefragt hatte, wie es uns geht und ob es uns hier gefällt, rückte er mit seinem eigentlichen Anliegen heraus: „Wisst ihr, ich bin aus einem besonderen Grund zu euch gekommen. Gestern Abend habe ich eure Musik gehört, euch beim Tanzen gesehen und möchte mit euch darüber sprechen.“

      Prompt und unaufgefordert reagierte Huschiar: „Wir haben einfach mit allen gesungen, getanzt. Und das Azerga-Feuer war für alle angezündet.“

      Der Lehrer sagte: „Ja, aber ihr habt kurdische Kleidung angehabt.“

      „Na und?“, entgegnete Huschiar. „Was soll daran falsch sein?“

      „Ja“, sagte der Lehrer, „es war euer freier Abend und ich will nicht sagen, was daran falsch oder richtig war, ich möchte euch nur einen Ratschlag geben. Hört auf mich wie auf einen großen Bruder. Wir sind hier auf den Befehl von oben gekommen, und zwar mit dem Ziel, Kontakte zu anderen Schulen zu knüpfen, das Ministerium will es so. Ihr alle müsst auf euch achten. Es gibt hier geheimdienstliche Aufpasser der Savak.“ Mit diesen Worten ließ er uns allein. Im Stillen musste ich an Hajeje denken, den armen alten Mann, dem die Savak Finger- und Fußnägel ausrissen hatten. Die reinste Folter! Aber das behielt ich für mich.

      „Was ist das für ein Lehrer?“, fragte Huschiar. „Er spricht persisch und nicht unsere Sprache, kurdisch.“

      Ich entgegnete: „Das ist mein Lehrer aus Marivan. Er spricht nur persisch. Er gibt sich auch in der Schule sehr ängstlich. Wenn wir Kinder ihn auf der Straße treffen und grüßen, antwortet er immer nur kurz und knapp.“

      „Was ist das für ein Kurde?“, ereiferte sich Huschiar. „Auf solche Feiglinge kann ich verzichten. Im Gegenteil, bei uns in Bane sprechen unsere Lehrer nur kurdisch mit uns. Und sie sind wie unsere Brüder. Nur in Ausnahmefällen, wenn es unbedingt nötig ist, sprechen sie persisch mit uns. Unser Lehrer ist schon oft zur Savak vorgeladen worden, aber er ist mutig und macht weiter. Mein Vater kennt seine ganze Familie, die politisch aktiv ist. Er hat mir auch gesagt, dass sein Großvater in Komala-J-Kaf war.“

      Ich fragte ihn, was das sei, Komala-J-Kaf?

      „Komala-J-Kaf ist eine Widerstandsbewegung in der Republik Mahabad, die gegen den Schah protestiert hat.“ Huschiar schaute mich an und sagte: „Junge, du musst noch viel lernen! Aber jetzt haben wir keine Zeit, wir müssen gehen. Mal sehen, was sie heute mit uns machen.“

      Bevor wir die Kantine verließen, gaben wir unser Tablett zurück, auf dem noch so viel Essen lag, dass einige der Armen in unserer Stadt davon satt geworden wären. Aber man konnte es ja nicht sammeln und dort hinschicken, dachte ich.

      Draußen sahen wir viele von den Schülern, die gestern Abend mit uns getanzt und gefeiert hatten. Sie sahen heute Morgen so anders aus. In einer Gruppe konnte ich Mädchen von Jungen nicht unterscheiden. Sie waren sehr schick und sauber.

      Huschiar erklärte: „Das sind Japaner. Sie sind erst gestern Abend angereist.“

      Oh, ein Mädchen lächelte mich von Weitem an. War es wirklich ein Mädchen? Sie – oder er? – kam auf mich zu, gab mir die Hand und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich stellte mich kurz vor und sagte auf Englisch: „Hallo, ich freue mich, mein Name ist Ezadi.“ Und in meiner eigenen Sprache fügte ich hinzu: „Ich komme aus Marivan, also mein Name ist Ezadi, made in Iran.“


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