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Tigersturz und Ringerbrücke. Frank RudolphЧитать онлайн книгу.

Tigersturz und Ringerbrücke - Frank Rudolph


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gründlich gedehnter Körper ist weniger anfällig für Krankheiten und Verletzungen. Hier erkennt man einen der wichtigsten Unterschiede zur westlichen Kampf- und Heilkunst. In vielen – wenn auch nicht in allen – westlichen Kampfkünsten dehnt man den Körper nur soweit, wie es als Grundlage für die Techniken notwendig ist. Fechter beispielsweise dehnen ihre Beine für den Ausfall, so dass die meisten von ihnen problemlos einen Spagat schaffen. In dieser Sichtweise liegt schon eines der großen Missverständnisse. Der Spagat – der freilich seine Berechtigung hat, wie wir noch sehen werden –, ist nicht gleichzusetzen mit einer guten Dehnung, da er passiv ausgeführt werden kann und den Körper kräftemäßig nicht sonderlich fordert. Ringer haben allgemein einen geschmeidigen Oberkörper, der für die Belange ihrer Kunst ausreichend flexibel ist. Aber die Dehnung in dieser Disziplin geht selten darüber hinaus. Die europäischen Fußfaustkampf-Schulen, wie das französische savate oder das deutsche Hand- und Fußboxen,4 lehren ein umfangreiches Repertoire an hohen Fußtritten (siehe Abbildungen 1 und 2). Die Geschmeidigkeit und die Kraft dieser Tritte nehmen hierbei durch das ständige Üben im Laufe der Zeit zu. Je eher man damit beginnt, desto gründlicher ist die Dehnung. Doch auch bei diesen Disziplinen ist die Dehnung selten Selbstzweck und bleibt innerhalb des notwendigen Maßes.

      Abb. 1: Hochtritt (Luerssen 1914).

      Abb. 2: Tritt gegen den Kopf (Happel 1896).

      Ähnliches könnte man über die meisten anderen westlichen Schulen sagen. Es gab zwar Lehrer, die ihre Schüler dazu anhielten, ihren Körper zusätzlich mittels turnerischen oder gymnastischen Elementen zu stärken, aber das war eine individuelle Vorgehensweise und sprach mehr für den jeweiligen Lehrer und weniger für die Lehre an sich.5

      Etwas anders verhält es sich bei den Kontorsionisten6 und auch bei den Ballerinen und Balletttänzern. Diese dehnen ihren Körper sehr einseitig und manchmal über das gesunde Maß hinaus. Das Balletttraining an sich stattet die Tänzer mit einer guten, flexiblen Kraft aus. Die trainierten Bewegungen wären sogar für einen Kampf tauglich. Die Körperschule erzieht die Künstler zu einer einheitlichen und koordinierten Bewegung, was sowohl dem Tanz als auch der allgemeinen Beweglichkeit zugute kommt. Die Dehnung ist nicht so effektiv wie die des alten wǔshù7 oder jene der frühen deutschen Turnbewegung; es werden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Doch ist sie viel besser als die rudimentären Lockerungsversuche vieler Kampfsportarten. Der Nachteil tänzerischer Dehnung liegt in den vielen körperfeindlichen Bewegungen, für die sie genutzt wird, und die durch eben diese Dehnung erst möglich werden.8 Diese Techniken, die recht häufig die natürlichen Grenzen der Gelenke zu überwinden versuchen, kann der Körper nur eine Zeitlang kompensieren. Entwächst man der Jugend, kommt es fast immer zu chronischen Schäden. Deswegen ist Dehnung nicht gleich Dehnung. Ungesunde Bewegungen führen zur Zerstörung. In der chinesischen Dehnung achtet man darauf, den natürlichen Bewegungsumfang der Gelenke zu akzeptieren und ihm nicht zuwiderzuhandeln. Ziel ist die Gesundheit des Menschen. Ästhetik ist zweitrangig.

      Abb. 3

      Abb. 4

      Während man in den Kampfkünsten durch Technikschulung und Krafttraining ein Gegengewicht schafft, das den Organismus stärkt, wird bei den Tänzern Geschmeidigkeit bei gleichzeitiger Zierlichkeit gewünscht. Die klassische chinesische Dehnung wird immer parallel zur Kräftigung eingesetzt, so dass die beiden Elemente in der Waage bleiben. Eine reine

      Abb. 5

      Abbildungen 3 bis 5: Westliche Dehnungstechniken (Ravenstein 1868).

      Dehnung ohne die gleichzeitige Stärkung des Körpers, speziell der beanspruchten Glieder, wird früher oder später zu einer Schädigung des Organismus führen. Interessanterweise blieb selbst der Kleine Drache9 recht weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Seine Dehnungsfähigkeit war, wie das im Westen üblich ist, seiner Kampffähigkeit geschuldet und ging nur wenig darüber hinaus. Auch sein früher Tod lässt vermuten, dass sein Training nicht auf optimale Gesunderhaltung ausgerichtet war.

      Mit dem Aufkommen des Sportgedankens im England des 18. und 19. Jahrhunderts und der zur gleichen Zeit entstandenen Turnerbewegung in Deutschland gewannen die Dehnungsübungen mehr Beachtung (siehe Abbildungen 3 bis 6). In dieser Ära machten sich Fechter, Boxer, Kraftmenschen und Turner erstmals seit der Antike wieder tiefgründige Gedanken zum Training. Ihre Theorien gingen über die ihrer Vorfahren hinaus, man experimentierte auf einem breiteren Gebiet.

      Doch bereits im Mittelalter und während der Renaissance verbanden die Kämpfer verschiedene Elemente des Körpertrainings mit ihren Kampfübungen. Der Effekt der Leistungssteigerung durch zusätzliche Kraftarbeit, verbunden mit Ausgleichsübungen, insbesondere Dehnung, war ihnen durchaus bekannt. Zwar geben die erhaltenen Quellen10 wenig Auskunft darüber, wie weit die einzelnen Elemente perfektioniert wurden, doch können wir davon ausgehen, dass gerade die Verbindung von Kraft- und Dehnungsübungen noch in den Kinderschuhen steckte (siehe Abbildung 7).

      Abb. 6: Partner-Dehnungsübungen. Nils-Bukh-Schule, ca. 1920.

      In China sah man das schon im Altertum anders. Chinesische Kämpfer, besonders jene, die nicht dem militärischen Drill unterworfen waren, legten Wert auf eine ausnehmend gründliche Grundlagenarbeit. Bei jedem Training begann und beginnt man noch heute damit, egal um welche Methode oder um welchen Stil es sich handelt. Im chinesischen wǔshù sieht man die Dehnung keineswegs als Bestandteil des Aufwärmens oder als Zusatzübung an, deren Vernachlässigung entschuldbar wäre. Im Gegenteil, in jeder Schule der Wǔshù-Familie stellt das Dehnen ein essentielles Grundlagentraining, eine Kraftübung und ein Mittel zur Gesundheitspflege zugleich dar. Der gesamte Körper wird hierbei beansprucht, so dass durch die große Innenspannung ein isometrischer Trainingseffekt entsteht. Das bedeutet, dass es sich um ein vorzügliches Krafttraining handelt, durch welches man eine funktionelle und flexible Kraft aufbaut, was sich zudem positiv auf die Gesundheit auswirkt. Verspannungen werden sehr gründlich gelöst und die Funktionen des Körpers laufen reibungslos ab. Diese Art des Dehnens ist nach unserem Wissen in den westlichen Kampfkünsten nie durchgängig11 praktiziert worden. Kaum eine der überlieferten Schriften, seien sie antik oder neuzeitlich, berichtet darüber. Im Abendland wurden und werden die Möglichkeiten, die Sehnen zu dehnen, nicht vollkommen ausgeschöpft.

      Abb. 7: Zeitgenössische Darstellung der Cotswold Olimpick Games aus dem Jahr 1635. Diese Sportspiele, die um 1612 erstmals durchgeführt wurden, stellten einen ersten Versuch der Wiederbelebung der antiken olympischen Idee in der Neuzeit dar.

      Aber Dehnung muss auf die richtige Weise erfolgen. Wer sich oft falsch bewegt oder wer es mit der Dehnung übertreibt, untergräbt seine Gesundheit. Ist der Körper hingegen gut und auf korrekte Weise gedehnt, haben Krankheiten es schwer, sich einzunisten. In der chinesischen Medizin existiert die Theorie, dass Krankheiten erst entstehen, wenn bestimmte Leitbahnen blockiert sind. Diese Bahnen sind die Sehnen, die Arterien, die Venen, die Lymphkanäle und die Faszien. Sind sie frei, werden Krankheiten bereits im Ansatz verhindert. Das ist das primäre Ziel der chinesischen Kampfkunst, die unmittelbar mit der traditionellen Medizin verbunden ist. Die Akupunktur erfüllt einen ganz ähnlichen Zweck. Auch sie löst Blockaden an »verstopften« Stellen im Körper. Sie zählt allerdings nur als eine sekundäre Methode zur Gesunderhaltung, da sie auf eine bereits bestehende Krankheit reagiert.

      Unser Körper ist kein aus Einzelteilen zusammengesetztes System, sondern ein einheitliches Gebilde. Von der Kopfspitze bis hin zu den Spitzen der


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