Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
irgendwelche derartigen Rohstoffvorkommen im eigenen Land waren sie nutzlos geworden. Das Metall freilich war anfangs noch wiederverwendet worden, aber mittlerweile hatte der Rost die Oberhand gewonnen. Das Gelände am Rande von Cem war verlassen, die Autowracks wurden Wetter und Verfall überlassen. Mit einem klammen Gefühl in der Magengrube musste Mira an einen Friedhof denken.
Hinter einem einigermaßen standfest aussehenden Berg aus Karosserien und Reifen ließ Mira Chas zu Boden sinken. Sein Hemd war von der Anstrengung schweißgetränkt, das schwarze Haar klebte ihm nass und schmutzstarr an der Stirn, und sein Blick war wieder ins Nichts gerichtet.
„Danke“, flüsterte Mira, halb an ihn, halb an Gott gewandt, und wischte sich selbst den Schweiß von der Stirn. Ihre Beine fühlten sich an, als wollten sie ihr jeden Moment den Dienst versagen, und sie gab dem Drang nach, sich ebenfalls kurz zu setzen. Sie trocknete mit ihrem Ärmel Chas’ Stirn ab und suchte nach seinem Puls, aber mehr als dessen rasendes Klopfen beunruhigte sie die immer noch unnatürliche Hitze seiner schweißnassen Haut.
„Du musst durchhalten.“ Mira schluckte. Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, was Chas fehlte, und keine Ahnung, welche Medikamente er brauchte. Aber welche Wahl hatte sie? Einfach hierzubleiben war keine Option. Sie konnten nicht länger abwarten und darauf hoffen, dass Chas von selbst wieder zu Kräften kommen würde. Und dann war da ja auch noch Filip, für den mit jedem Tag der Prozess näher rückte. Doch fortsetzen konnten sie ihren Weg nicht. Das würde Chas nicht schaffen. Und zurücklassen konnte Mira ihn auf keinen Fall. Schon gar nicht in diesem Zustand.
Also was hätte sie tun sollen? Sie konnte nicht tatenlos abwarten, während Chas immer schwächer wurde. Ihr Vorhaben war wahnwitzig, einen besonders guten Plan hatte sie nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wie genau sie es anstellen wollte. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: Sie musste es versuchen.
Chas regte sich nicht mehr. Entweder er war vor Erschöpfung eingeschlafen, oder er hatte das Bewusstsein verloren. Aber das war ihr recht. So konnte er wenigstens nicht fragen, wohin sie ging und was sie vorhatte.
Kapitel 2
In der Falle
Das Gesundheitszentrum war eine Festung. Mira hatte den gesamten Morgen und einen Großteil des Nachmittags damit zugebracht, das Gebäude und das rege Treiben außen herum zu beobachten. Da gingen wichtig aussehende Staatsgesundheitsbeamte ein und aus, wurden Kranke gebracht, Spaziergänge in Krankenhauskluft unternommen, Lebensmittel geliefert und Müllsäcke abgeholt.
Mira suchte seit Stunden fieberhaft nach einer Schwachstelle. Blieb die Tür hinter einem der Beamten länger als nötig offen, sodass sie hindurchhuschen konnte, ohne ihr Armband zu scannen? Gelangte jemand durch den Besuchereingang, ohne von der Frau hinter dem Schalter aufgehalten zu werden? Blieb der Lieferanteneingang unbeaufsichtigt offen stehen? Aber nichts davon war der Fall.
Mira überlegte, was die Helden in ihren Lieblingsromanen an ihrer Stelle getan hätten. Sich als Staatsgesundheitsbeamter ausgegeben vielleicht, eine Krankheit vorgetäuscht und sich selbst im Gesundheitszentrum aufnehmen lassen, um nachts aus dem Zimmer zu schleichen. Ein Fenster eingeschlagen, den Feueralarm ausgelöst, einen Tunnel gegraben. Aber all diese Ideen, die in Büchern so gut funktionierten, erschienen Mira für die Realität zu kurzsichtig. Zu viel konnte schiefgehen, zu viel stand auf dem Spiel. Mira konnte nicht riskieren, erwischt und eingesperrt zu werden.
Als es schließlich dämmerte, saß Mira immer noch auf einem Stein im Hinterhof und sprang jedes Mal in die Büsche hinter sich, wenn sich etwas regte. Doch auch das wurde seltener. Der geschäftige Tagesbetrieb hatte schon vor Stunden ein Ende gefunden. Die Besucher waren gegangen. Dort drinnen, hinter den hell erleuchteten Fenstern, wurden jetzt vermutlich Kranke versorgt, bekamen Brot und Suppe zum Abendessen, um wieder zu Kräften zu kommen, nahmen Medikamente ein und schliefen in weichen Betten.
An so einen Ort gehörte Chas. Nicht auf einen rostigen, schmutzigen Autofriedhof. Vielleicht war es dumm von Mira, ihn jetzt noch zu decken. Was, wenn er starb? Würde es wirklich so schlimm sein, wenn seine wahre Identität ans Licht käme? Ein Skandal wäre es natürlich − verschwundener Kronprinz wieder aufgetaucht! Aber konnten sie ihn wirklich als Verräter anklagen? Er war immerhin Nicholas Auttenbergs Sohn! Vielleicht sollte sie ihn einfach zum Gesundheitszentrum bringen. Chas hatte weder Kraft, Fragen zu stellen, noch, sich zu wehren. Und vielleicht rettete es ihm das Leben.
Je länger sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihr diese Idee. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Kranken richtig versorgte − zumal sie nur eine vage Vermutung hatte, was Chas fehlte und dass das Fieber von einer Infektion seiner Wunde herrühren musste. Es sah auch nicht so aus, als hätte Gott vor, ihre verzweifelten Gebete zu erhören und ihr Zugang zu den Medizinvorräten des Zentrums zu verschaffen. Vielleicht weil er wusste, dass Chas dort draußen keine Chance hatte.
Mira erhob sich und streifte sich Staub und Steinchen von der Kleidung, da ließ das Knirschen von Reifen auf Asphalt sie zusammenschrecken. Abgesehen davon, bog der elektrische Lieferwagen nahezu lautlos in den Hinterhof ab. Miras angespannter Körper reagierte schneller als ihr müde gewordenes Gehirn: Sie sprang zurück in ihren Unterschlupf.
Aus dem sicheren Versteck hinter den Büschen beobachtete sie, wie ein glatzköpfiger Mann ausstieg und pfeifend den Laderaum öffnete. Er verschwand in dessen Innerem und schleppte bald darauf einen Stapel Holzkisten die Laderampe hinunter. Durch die Lücken zwischen den Latten konnte Mira silberne Dosen erkennen. Konserve an Konserve stapelten sich Lebensmittel in den Kisten.
Wenigstens das konnte sie tun. Chas würde all seine Kräfte für den Transport zum Gesundheitszentrum brauchen. Und Mira auch, denn wenn sein Zustand sich nicht auf wundersame Weise verbessert hatte, würde sie ihn wieder mehr tragen als stützen müssen. Ihnen beiden würde eine richtige Mahlzeit guttun.
Mira wartete, bis der Glatzköpfige mit den Kisten sein Armband gescannt hatte und durch den Lieferanteneingang verschwunden war. Noch während sich die Türen hinter ihm schlossen, schoss sie aus ihrem Versteck und geradewegs auf den weißen Lieferwagen zu. An den offenen Türen schlug ihr der berauschende Duft frischen Brotes entgegen. Schwindlig vom bloßen Gedanken daran, kletterte sie in den Laderaum.
Der schmale Durchgang war mit deckenhoch gestapelten Kisten und Boxen gesäumt. Und auf jeder einzelnen klebten Etiketten, deren Aufschrift Miras Magen zum Knurren brachte: „Eingelegte Pfirsiche“, „Laugengebäck“, „Essiggurken“, „Marmelade + Apfelmus“, „Fruchtsaft“, „Mehl“, „Zucker“ und „Räucherschinken“.
Mira zwängte sich zwischen die Stapel aus verpackten Lebensmitteln und riss den erstbesten Karton auf. Er war bis zum Rand mit kleinen Papiertütchen voller Milchpulver gefüllt. Mira griff mit beiden Händen hinein und stopfte sich ein gutes Dutzend davon in die Hosentaschen, ehe sie den nächsten Karton öffnete. Und dann den nächsten. Sie belud ihre Arme mit allem, dessen sie habhaft werden konnte: Konserven mit Bohnen, Pfirsiche und Brot − es war ihr egal, ob irgendetwas davon zusammenpasste.
Als sie beim besten Willen nicht mehr tragen konnte, erschrak Mira vor sich selbst. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr Hunger einem Menschen zusetzen konnte. Aber nach Tagen mit nichts oder kaum etwas im Magen waren ihr beim Anblick des vielen Essens sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte wie im Rausch Lebensmittel zusammengerafft und gar nicht auf die Zeit geachtet, die sie sich schon im Inneren des Lieferwagens befand.
Draußen schepperte es. Vor Schreck ließ Mira beinahe ihre Beute fallen.
„Der Rest kommt nach hinten in Lagerraum 3. Fahr rein!“, brüllte eine Männerstimme draußen, und zu Miras Entsetzen näherten sich nur einen Augenblick später knirschende Schritte. Sie wich an die Wand hinter ihrem Rücken zurück, so tief in eine der Lücken zwischen den Kistenstapeln wie nur irgendwie möglich. Aber die Tür am Ende des Lieferwagens hatte sie nach wie vor im Blick. Der Glatzköpfige erschien zwischen den offenen Türflügeln. Mira hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Er durfte sie nicht sehen. Er durfte sie einfach nicht sehen. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er es nicht