Koshiki Kata. Roland HabersetzerЧитать онлайн книгу.
werden, und es entstanden eigene Varianten überlieferter Kata. Das, was wesentlich ist, wurde auf eine Vielzahl von Formen verteilt, die unter dem Aspekt der „inneren Suche“ eher nutzlos sind.11 Das Wahrhaftige ist durch den Schein abgelöst worden; der Wald ist vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Diese Situation besteht nun seit über 80 Jahren, seit Funakoshi Gichin Anfang der 20er Jahre nach Japan ging und dort eine erste Zusammenstellung von Techniken des okinawanischen Karate vorstellte. Diese Entscheidung Funakoshis wurde seitens der Meister, die auf der Insel verblieben waren, keineswegs einhellig begrüßt, und sie ist die Ursache dafür, daß mitunter die Gesamtheit des Werkes jenes Mannes, der oft als Vater des modernen Karate angesehen wird, in Frage gestellt wird. Auf jeden Fall bewirkte sie, daß das Verständnis dessen, was authentisches Karate darstellt, sich weitgehend gewandelt hat.
Der sogenannte „zivilisierte“ oder „fortschrittliche“ Teil der Menschheit im 20. Jahrhundert glaubte daran, daß Reichtum nur aus dem Überfluß kommen könnte. Das führte zum Streben nach immer mehr – und dies so schnell wie möglich. So war man übersättigt und doch auch immer hungrig. Das Gebiet der Kampfkünste bildete hier keine Ausnahme. Einer versuchte den anderen mit seinen Techniken zu übertrumpfen, trügerische Verkürzungen wurden gewählt, Scheinbares zum Wirklichen erklärt, falsche Werte „offiziell“ anerkannt. All dies erweckt den Anschein einer Flucht nach vorn durch dichten Nebel. Doch es hat auch dazu geführt, daß inzwischen zahlreiche Karateka das Gefühl beschlichen hat, daß sich hinter all dem Wirrwarr noch etwas anderes befinden muß. Sie ahnen, daß ein weniger oberflächliches Praktizieren mit der Zeit weit mehr bewirken kann, als das Ego von Zeit zu Zeit zufriedenzustellen, daß auf diese Weise ein Erfahrungsschatz gewonnen werden kann, der von Dauer ist und der letztendlich eine in jeder Hinsicht höhere Lebensqualität zur Folge hat. Die Frage lautet nun, ob ihre Ausdauer, einen solchen Weg zu beschreiten, ausreichend sein wird.
Zahlreich und entmutigend sind die Hindernisse auf dem Weg des Suchenden. Und etliche, die der Entwicklung des Karate zum Sportspektakel überdrüssig sind, folgen diesem „neuen“ Weg auch nur deswegen, weil es derzeit modern erscheint, zu den Quellen zurückzukehren. Das Wissen über den historischen und kulturellen Hintergrund des Karatedô ist bei den daran Interessierten und selbst bei vielen Hochgraduierten oft erschreckend gering, und dies trifft sogar auf manchen hochrangigen Karateka in Japan zu. Das stellt ein ernstes Problem dar, denn letztere verdrehen mitunter die Tatsachen und erzählen leichtfertig den größten Unsinn, wodurch sie große Verwirrung stiften. So werden beispielsweise der einen oder anderen Kata Eigenschaften zugesprochen, die sie schon aufgrund ihrer Konzeption gar nicht haben kann. Auf diese Weise kann es geschehen, daß eine von ihrem Schöpfer für den Kampf bestimmte Kata mit einer Kata verwechselt wird, die ausschließlich der Entwicklung der inneren Energie dienen soll. Oder es wird vom kulturellen oder geistigen Niveau eines historischen Meisters der Kampfkünste geredet, ohne daß der Bezug zum kulturellen Niveau seiner Zeit oder seines Umfelds hergestellt wird.12
Weitere Verwirrung stiftet das häufige Verwechseln von „klassischen“ und „traditionellen“ Kata. Zwischen beiden gibt es einen feinen, aber sehr bedeutsamen Unterschied. Die klassische Kata ist eine Abfolge von Bewegungen und Körperhaltungen, die unwandelbar weitervermittelt wird, aber sie vermittelt nicht immer eine Botschaft (beispielsweise religiöser Natur). Alle Kata, in denen eine bestimmte Tradition fortlebt, sind offenkundig alte, klassische Formen. Der umgekehrte Fall gilt hingegen nicht immer. Man kann nicht über irgendeine Kata mit der Begründung, sie sei alt, beliebige Behauptungen aufstellen. Auch treffen bestimmte Dinge nur auf Teile einer Kata zu. Finden sich beispielsweise mehr oder weniger deutliche kulturelle, religiöse oder energetische Anhaltspunkte in einem bestimmten Abschnitt einer Kata, so wäre es doch vermessen zu behaupten, die gesamte Kata sei hierdurch charakterisiert.
Die alten Kata sind Botschaften einer Tradition, gewiß auch Träger bedeutender Lehren, die dem modernen Menschen helfen können, die Welt besser zu begreifen und ein besseres Leben zu führen. Aber dieses in ihnen verborgene Wissen offenbart sich erst dem, der dazu „bereit“ ist, und dies geschieht dann in Gestalt von flüchtigen Eingebungen, die mehr oder weniger häufig auftreten. Nach und nach stellt sich so eine neue Wirklichkeitssicht ein. Die Bewegungsfolgen und Körperhaltungen einer klassischen Kata so genau wie möglich zu kennen und zu üben, führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, die zweite Stufe des Verständnisses zu erreichen, das heißt, die traditionelle Botschaft zu erkennen, die in der Bewegungsfolge enthalten ist. Die erste Stufe des Verständnisses der Kata – das „äußere“ Begreifen – kann die zweite Stufe, das „innere“ Begreifen, zur Folge haben, aber dies geschieht nicht von allein. Die beiden Arten, eine Kata geistig zu erfassen, sind nicht völlig voneinander unabhängig, sondern stellen parallele Prozesse dar. Beide müssen behutsam und ohne Vorurteile angegangen werden. Die Teile des auf diesem Weg erlangten Wissens sind mit den Scherben eines alten Tongefäßes vergleichbar. Fügt man sie voreilig zusammen, kann es geschehen, daß manche Scherbe verkehrt eingesetzt wird. Und beim vorschnellen Versuch, die alten Farben aufzupolieren, ist schnell das ganze Bild verfälscht.
Es ist ein mühseliges Unterfangen, das Studium der klassischen Kata zu beginnen. Es gibt keine wirklich vertrauenswürdigen alten Dokumente über sie, und ihr Weg durch die Zeit stellt einen langen Erosionsprozeß dar. Es lauert die Gefahr falscher Entdeckungen, die neue Irrtümer nach sich ziehen und am Ende den gerade noch sichtbaren Pfad vollkommen vernebeln könnten. Das Risiko, den klassischen Kata irreparablen Schaden zuzufügen ist groß, wenn man versucht, sie übereilt aus zerbrechlichen Fragmenten zu rekonstruieren.
Immerhin: noch existieren diese Fragmente, und dies zu zeigen, werde ich in diesem Buch versuchen. Zunächst war es mir jedoch wichtig, vor den Gefahren zu warnen und anzuregen, die Dinge mit Bedacht zu betrachten. Es wäre nicht im Sinne des Autors, wenn jemand dieses Werk in der Absicht verwendete, eine neue Variante einer bestimmten Kata zu lernen, um dank ihrer exotischen Couleur für einen Moment vor anderen glänzen zu können.
Klassische Kata des Karatedô – eine Technik des Erweckens
Die Kata, die über Generationen hinweg von den Meistern weitervermittelt wurden, stellen eine Art Bildsprache dar. Sie scheinen einfach verständlich zu sein, wenn nicht sogar einfach zu praktizieren. In Wirklichkeit ist ihre Sprache eher dunkel, was sich dem Praktizierenden aber erst allmählich erschließt, und zwar entsprechend seiner Fertigkeit, den „Code“ der Kata zu entschlüsseln. Die Schöpfer der Kata haben zweierlei beabsichtigt. Zum einen sind die Kata eine Art Grammatik der Karate-Kampftechniken. Dies ist die erste Ebene der Interpretation, des Begreifens und der Anwendung. Auch hier gibt es natürlich Abstufungen, wie wir später sehen werden, wenn verschiedene Bunkai zu ein und derselben Technik dargestellt werden. Zum anderen ist die Kata ein Weg der Initiation, ein Leitfaden, der das Bewußtsein zu einem „anderen“ Zustand führt, was im Satori13 gipfeln kann, dem inneren Erwachen, dem „dritten Auge“. Das ist der Grund, weshalb es sehr gut möglich ist, eine Kata zu „kennen“ (und damit zufrieden zu sein) und doch von ihrem Wesen nicht das geringste zu wissen. Das, was man von der Kata sieht und die Art, wie man sie meistens ausführt, sind nichts als die Spitze des Eisbergs. Wie jedoch läßt sich der Rest erkunden? Dafür sollen im weiteren einige Anregungen vermittelt werden.
Die klassischen Kata14 haben allesamt eine chinesische Tao zum Ursprung.15 Sie alle tragen – mehr oder weniger deutlich – die Prägung des chinesischen Denkens und des antiken chinesischen Weltbildes. Im alten China glaubte man, daß die Struktur des Mikrokosmos eine Einheit mit der Struktur des Makrokosmos bildet, und man glaubte, daß jedes Wesen und jedes Ding das augenblickliche Ergebnis eines Gleichgewichts entgegengesetzter Kräfte ist, des Yang (positives Element) und des Yin (negatives Element). Andere Gegensatzpaare waren das Volle und das Leere, das Licht und der Schatten oder das Offensichtliche und das Verborgene. Die Tao und schließlich auch die aus ihr entwickelten Kata trugen ebenfalls diese Idee der Dualität, die hinter der Erscheinung steht, in sich: Jedem Angriff entspricht eine Verteidigung, jede Aktion ist mit einer Reaktion verknüpft, jeder sichtbaren Technik wohnt eine nicht offensichtliche Technik (ihre Weiterführung) inne, jede Interpretation trägt mindestens eine weitere, verborgene