Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer. Erik LorenzЧитать онлайн книгу.
Du musst aber erst deine Mutter fragen, ob du sie lesen darfst. Sie sind von Karl May geschrieben, und Karl May hat im Zuchthaus gesessen.«
Meine Mutter hatte keine Ahnung, wer Karl May sei. Als sie aber das Wort Zuchthaus hörte, entschied sie: »Diese Bücher liest du nicht.«
Ich gehorchte.
»Schade«, meinte Armin. Damit war die Sache abgeschlossen.
Im Sommer fand ich in Tirol, in einem kleinen Dorf zwischen Bergen, Wäldern und Almweiden, einen weniger wohlerzogenen Spielgefährten. Wir spielten Indianer, und es ist ein wahres Wunder, dass kein Unglück dabei geschah. Unsere Häuptlinge kämpften auf selbstgebauten Flößen mit langen Stangen, die sie für Speere hielten, auf einem Sumpfsee. Ich war Häuptlingsfrau und hütete das Feuer, damit kein Waldbrand entstand.
»Höre«, sagte mein indianischer Gemahl zu mir, »entweder liest du jetzt Karl May, oder du spielst nicht mehr mit.«
Am nächsten Morgen saß ich versteckt auf dem Dachboden des alten Bauernhauses und las Winnetou.
Ich liebte Winnetou, wie ich Unkas geliebt hatte. Old Shatterhand war mir zu eitel und zu selbstgefällig, ich konnte ihn nicht ausstehen. Auch glaubte ich, dass der Schriftsteller gelogen haben müsse, wenn er behauptete, dass ein Apachenhäuptling Madonnenaugen gehabt und nur um seines Freundes Scharlieh willen eine Bahn für den Feind mitten durch das Stammesgebiet fertiggebaut habe.
Ich beschloss, selbst zu studieren, was in Wahrheit geschehen sei und was für Charaktere jene Indianer gewesen seien, die ihre Heimat und ihre Freiheit verteidigt hatten.
Ich beschloss, Historikerin und Schriftstellerin zu werden.
Meine Mutter war sehr geduldig. Jahr um Jahr, Abend um Abend saß sie mir still gegenüber, wenn ich schrieb – und immer wieder schrieb, weil es mir noch nicht gelingen konnte, so zu schreiben, wie ich es mir vorgenommen hatte. Um ein Dichter zu sein, braucht man nicht nur Kenntnisse, nicht nur Phantasie, nicht nur Liebe zu den Menschen – man muss das Leben kennenlernen.
Meine Mutter wartete und störte mich nicht.
Ich hatte eine gute Mutter, wenn sie auch nicht immer gewusst hat, was sie tat.
Als ich die Indianer, meine Freunde, in Kanada und in den Vereinigten Staaten von Amerika besuchen konnte, ruhte meine Mutter schon im Grabe, und ich vermochte ihr nur noch in Gedanken zu berichten, was alles daraus entstanden ist, dass sie eines Tages zu mir gesagt hatte »Es ist ein gutes Buch...«.
I – Eine vielseitige Frau
Wissenschaftlerin, Autorin, Mutter
Äußerlich war sie ganz schlicht –
man hätte nie gedacht, dass sie eine so große Wissenschaftlerin und Autorin war.
Detlef Rößler2
2 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und persönlicher Assistent Welskopf-Henrichs; Zitat aus einem Gespräch mit dem Autor.
Es ist einer der vielen sonnigen Tage im Sommer des Jahres 2010, als der Autor dieser Zeilen mit der Straßenbahn durch die Hauptstadt fährt und dabei Zeuge eines Gesprächs zweier etwa zehnjähriger Jungen wird. Sie tragen Flipflops, Sonnenbrillen, bunte Bermudashorts und luftige Shirts; nichts unterscheidet sie von anderen Kindern ihres Alters. Um so überraschender ist ihr Gesprächsthema. Der eine, ein Blondschopf, berichtet seinem Freund begeistert von einer sechsteiligen Bücherserie, die ihm sein Vater vor einigen Tagen geschenkt habe: »Die Söhne der Großen Bärin« von Liselotte Welskopf-Henrich. »So ein alter, vergilbter Schinken aus der DDR«, sagt der Junge, »aber echt genial geschrieben!« Das Interesse des Freundes ist verhalten, er spielt lieber an seinem iPod herum, aber der junge Bücherfreund bleibt in seinem Enthusiasmus unbeirrt und erzählt von den Abenteuern, die der Dakotajunge Harka im ersten Teil zu bestehen hat. Die gemeinsame Leidenschaft der beiden ist das Skateboarden, wie sich etwas später herausstellt, doch im Augenblick begeistert sich der Blondschopf einzig und allein für den jungen Indianer und seine tollkühnen Taten: »Er ist sehr sportlich, aber auch klug«, stellt er fest. »Also wie ich«, entgegnet der andere, spannt die Muskeln, setzt einen in die Ferne gerichteten Denkerblick auf und freut sich.
Als hundert Jahre zuvor Liselotte Welskopf-Henrich um die zehn Jahre alt war, war die Welt noch eine andere. Eine jahrzehntelange Phase relativen Friedens hatte zu einem beispiellosen Aufschwung der Wirtschaft geführt. Wissenschaftliche Erkenntnisse wie Plancks Quantentheorie, Einsteins Relativitätstheorie oder auch Freuds Psychoanalyse ließen traditionelle Weltbilder einstürzen. Kunst und Literatur standen im Zeichen der Moderne. In Indien wurden zum ersten Mal Briefe mit einem Postflugzeug transportiert. Die Titanic stand kurz vor ihrem Stapellauf. Amundsen und Scott bereiteten ihre Südpolexpeditionen vor. Bald schon würden die letzten »weißen Flecken« von den Landkarten geschwunden sein. Doch trotz allen Fortschritts wuchsen die politischen Spannungen in Europa, die sich im Ersten Weltkrieg entladen sollten, nach dem nichts mehr so sein würde wie zuvor.
Ähnlich, wie der Blondschopf sich heute für Welskopf-Henrichs Werk begeistert, hatte diese einhundert Jahre zuvor gerade die Bücher von James Fenimore Cooper für sich entdeckt. Durch Berlin, die spätere Heimat Welskopf-Henrichs, fuhr auch damals schon die elektrische Straßenbahn. Doch ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie nicht in der Hauptstadt, sondern in München, wo sie am 15. September 1901 als Elisabeth Charlotte Henrich geboren wurde.
In ihrer frühen Kindheit spielte Liselotte, wie sie allgemein genannt wurde, oft unter Aufsicht ihres Kindermädchens im botanischen Garten. Am Nachmittag, in der Zeit, die sie mit ihrer Mutter Marie verbrachte, musste sie vor allem artig sein. Sie sprang die Stufen zum Hofgarten-Café im heimatlichen Stadtteil hinauf und hinunter, und im Herbst sammelte sie Kastanien. Gelegenheiten, Freundschaften zu schließen, boten sich kaum. Das änderte sich, als die Familie 1907 nach Stuttgart zog: Im Haus wohnte ein gleichaltriges Mädchen, das Liselotte in ihre große Spielhorde einführte. Jeden Nachmittag nach den Schularbeiten kamen die Kinder zusammen und genossen völlige Freiheit. In den Unterrichtspausen am Vormittag spielten sie »Räuber und Gendarm«. Einmal verteidigte Räuberin Liselotte sich auf einer Treppe so energisch gegen acht »Gendarmen«, dass der Schulleiter kommen musste, um sie von dem Geländer loszureißen, an dem sie sich festhielt.
Manchmal fanden die Kinder sich auch zu einer Erzählgruppe zusammen. Dann war Liselotte gefragt.
1913 musste sie sich von ihren Freundinnen trennen: Die Familie übersiedelte nach Berlin, eine Stadt, die Liselotte grässlich fand. Auf eigenen Wunsch besuchte sie ein humanistisches Gymnasium, wo sie Griechisch und Latein lernte.
Im Klassenverband musste sie sich erst durchsetzen. In den Unterrichtsstunden fiel ihr das aufgrund der hohen Ansprüche der Stuttgarter Schule leicht, dennoch fühlte sie sich als Fremdling. Der Direktor hatte sie schon von vornherein eine Klasse zurückversetzen wollen; um ihn von diesem Gedanken abzubringen, strengte Liselotte sich besonders an und war schnell die Klassenbeste. In ihrer Abwesenheit ermunterte die Klassenlehrerin dann die Klasse, sich doch von der Süddeutschen nicht übertreffen zu lassen.
Bald kam ein Mädchen in die Klasse, das in einem englischen Internat erzogen worden war. Zwischen Liselotte und diesem Mädchen entwickelte sich eine enge Freundschaft, die viele Jahre halten sollte. Oft verbrachten sie ihre Nachmittage gemeinsam, gingen spazieren, besprachen ihre persönlichen Probleme, aber auch die des Theaters, und beeinflussten sich in ihrer Entwicklung gegenseitig. Diese und andere Freundschaften trugen dazu bei, dass Liselotte in Berlin nicht unglücklich wurde, wie sie es zunächst befürchtet hatte.
1921 schloss sie erfolgreich ihr Abitur ab. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der späteren Humboldt-Universität, studierte sie Ökonomie, Geschichte und Philosophie – Wissenschaftsgebiete, die später ihre Forschungen in der Alten Geschichte grundsätzlich bestimmen sollten.
1925 promovierte sie an der Humboldt-Universität mit dem Hauptfach Ökonomie zum Dr. phil. Ihr Vorhaben, ihre wissenschaftliche