Auf der Terrasse. Thomas SchulteЧитать онлайн книгу.
kann nicht sein“, warf Grete ein, „Pinkanell ist vor zwei Jahren gestorben, ich habe neulich seine Frau gesprochen, sieht verdammt schlecht aus.“
„Das wäre eine Erklärung gewesen“, sagte Flamme, „aber passt bitte auf, was dann passiert ist: Ganz einfach, uns wurde nämlich nach einer knappen halben Stunde ebenso langweilig wie den Kindern vor uns. In der zweiten halben Stunde haben wir unsere Brote ausgepackt. Den Apfelsaft hatten wir schon hinter Alfeld ausgetrunken, aber wir hatten Gott sei Dank noch eine Thermoskanne Kaffee dabei. Und dann nach ungefähr einer Stunde reichte es mir: Niemand kam von vorne und auf unserer Seite machte niemand Anstalten auch nur einen Zentimeter weiterzufahren. Es war zum Verrücktwerden. Was war bloß los, irgendwo da vorne? Und dann haben wir ganz einfach reagiert; reagiert auf die vollkommene Passivität der vor uns stehenden in ihren blank geputzten VW, Opel und Mercedes.
Keiner hat sich getraut, und ich habe mich gefragt, wieso sind die alle dermaßen mutlos, angesichts einer Situation, die nach meiner Vorstellung doch vollkommen klar war. Es ist doch immer so, der Mensch ist ein Herdentier. Einer muss nur den Anfang machen, wie bei einer Flussüberquerung, wo die Antilopen dem Anführer hinterherlaufen. Es fängt ganz einfach immer der Mutigste an, das war meine Idee und der Mutigste hat auch das Glück auf seiner Seite, das war schon immer so; außerdem, das konnten doch alle sehen, war die Straße auf der linken Seite vollkommen frei, kein Gegenverkehr, rein gar nichts, weder Radfahrer noch Fußgänger auf der linken Seite und das nun schon über die ganze Zeit.“
„Ja, aber um Gottes Willen, was habt ihr denn da gemacht?“, fragte Grete fassungslos und gleichzeitig irritiert von Flammes andauernder Heiterkeit.
„Ja, was haben wir gemacht“, sagte Flamme, „ich will’s kurz machen, wir haben unserem Admiral die Sporen gegeben. Es war nicht ganz einfach zuerst aus der Lücke herauszufahren, wir waren ja alle ganz eng beieinander, aber danach war’s völlig problemlos. Unser Wagen hat noch nie in so kurzer Zeit so viele moderne Autos überholt; eigentlich hat er noch niemals ein Auto überholt, um bei der Wahrheit zu bleiben.“
„Mein Flamme sagt immer die Wahrheit“, warf an dieser Stelle Gertrud fröhlich ein, „also um bei der Wahrheit zu bleiben, sind wir bis gestern eigentlich immer überholt worden, was im Prinzip meiner sportlichen Grundeinstellung zuwiderläuft, aber jetzt sollte sich das schlagartig ändern. Ich meine, wir haben auch auf diese Weise zwei Sportwagen überholt, die hinter Elze an uns vorbei gezischt waren. Ich hätte zu gerne gewusst, was deren Besitzer empfunden haben, als wir nun mit unserem Admiral vorbeizogen.“
„Und dann?“, rief Walter aus.
„Ja, dann kam das Furchtbare“, sagte Flamme. „Keine Misere, nein, es war eine echte Katastrophe, etwas Schlimmeres ist dem Mutigsten noch niemals passiert! Das Schicksal kam von vorne, ich versichere euch, die Straße auf der linken Seite war wirklich bis dahin vollkommen frei; ich wäre doch bei Gott niemals auf die Idee gekommen zu überholen, aber nun kamen sie, ich weiß nicht woher, plötzlich waren sie da, mehrere Autos kamen uns entgegen! Der erste blinkte mit so einer neumodischen Lichthupe, aber er konnte nicht weiter, wir waren ja im Weg und rechts war die Schlange und die Straße war nicht breit und wenden konnte ich nicht mehr.“
„Aber um Gottes Willen, was habt ihr da gemacht?“, rief Grete.
„Ich habe erst einmal angehalten, um in aller Ruhe zu überlegen“, fuhr Flamme fort. „Wir standen Stoßstange an Stoßstange wie zwei Boxer im Ring, aber dann erschien es mir doch klüger aufzugeben. Na ja, ich habe schließlich den Rückwärtsgang eingelegt und dachte, du musst jetzt zurück in deine alte Lücke, das war natürlich ein ziemliches Ende und durch das kleine Rückfenster kann man schlecht sehen.“
„Sind da auch Farbtränen drauf?“, fragte Grete lachend.
„Mensch Grete, hör auf“, lachte auch Flamme, „es war keine Freude, ich habe jetzt noch einen steifen Hals und Gertrud, die seitlich aus dem Fenster sehen konnte, sagte mir, die Leute, die wir gerade alle überholt hatten, hätten ganz fürchterlich gegrinst. Und dann kamen wir schließlich an die Stelle, wo vor uns der Borgward gewesen war. Er war auch noch da mit den feixenden Kindern. Ein kleiner Junge streckte uns die Zunge raus. Ihr glaubt es nicht, aber unsere Lücke war zu. Der Hintermann war vorgefahren und alle übrigen auch. Ich sage euch, ein schmähliches Ende einer nach meiner Ansicht heldenhaften Tat. Wir mussten uns ganz hinten anstellen und die ganze Zeit noch mit dem grässlichen Kerl fertig werden, der uns mit seiner Lichthupe und seinen Helfershelfern vor sich hergetrieben hatte. Aber ich will euch sagen, alles in allem war es eine sehr schöne Fahrt und am meisten freut mich, dass wir nicht eine einzige Panne hatten.“
„Und was ist aus der Messe geworden?“, fragte Walter.
„Na ja, die Messe“, meinte Flamme, „die war uns nach diesem Erlebnis vollkommen egal. Und was auf der Messe los war, kannst du ja übermorgen in der Zeitung lesen. Und übrigens, das Eintrittsgeld für die Messe soll dieses Jahr wieder gewaltig gestiegen sein. Gott sei Dank, das sage ich euch, sind wir nicht mit der Bahn gefahren.“
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